Die neue Regierung wird sich mit kurzfristigen wirtschaftlichen Herausforderungen befassen müssen – wie der Bewältigung der Corona-Folgen, insbesondere der Rücknahme der Notfallmaßnahmen – sowie mit der langfristigen Transformation der Wirtschaft. Es geht um die Sicherung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, die zukünftige Rolle des mächtigen Automobilsektors, den ökologischen Wandel und die alternde Gesellschaft.
Diese Themen sind vielschichtig und eng mit anderen in der EU und der Eurozone diskutierten Ansätzen verknüpft, bei denen die deutsche Regierung eine zentrale Rolle spielen kann.
Zum ersten Mal könnte es zu einer Dreierkoalition kommen, was die Koalitionsverhandlungen, für die es kein formelles Verfahren gibt, komplizierter machen wird. Zu den wahrscheinlichen Koalitionsszenarien gehören die „Ampel“ (SPD-Grüne-FDP) und „Jamaika“ (CDU/CSU-Grüne-FDP). Eine "rot-rot-grüne" Koalition (SPD-Grüne-Die Linke) wäre zwar theoretisch möglich, würde aber die große Kluft zwischen den Ansichten des sehr gemäßigten Olaf Scholz und denen der Linken überbrücken müssen. Eine Wiederauflage einer CDU/CSU und SPD-geführten Regierung scheint wenig wahrscheinlich, da eine der beiden Parteien sich mit der Rolle als Juniorpartner zufriedengeben müsste.
Die Ampel ist an den Märkten eingepreist
Für Investoren stellt sich die Frage, was sie von den regierenden Parteien erwarten können. Mit der CDU/CSU an der Spitze glauben wir an eine günstigere Kombination für Unternehmen und die Aktienmärkte, da diese Parteien die Steuerlast senken und private Investitionen, vor allem für den grünen Wandel, fördern wollen. Eine Ampel-Koalition ist aus unserer Sicht bereits eingepreist, während Jamaika dem deutschen Aktienmarkt Auftrieb verleihen könnte, wenn auch nur kurzfristig.
Langfristig gesehen wird sich die Zinsdifferenz zu anderen EU-Ländern wohl verringern, da der Sparkurs auch in Deutschland angesichts der bevorstehenden Herausforderungen sein Ende finden dürfte. Dies könnte in Verbindung mit einer weltweit höheren Inflation zu höheren Zinssätzen führen. In beiden Szenarien wird der Druck auf die EZB dennoch eher nicht zunehmen, die Zinsen zu erhöhen, um die Inflation einzudämmen, vor allem nicht im Falle einer SPD-geführten Koalition. Mit der CDU/CSU an der Spitze könnte die Bereitschaft zu höheren Zinssätzen größer sein.
Da die Grünen in beiden Szenarien wahrscheinlich Teil der Regierungskoalition sein werden, wird ESG weiter in den Vordergrund rücken. Dennoch könnten gemeinsame ESG-Standards auf EU-Ebene schwierig werden, da die Grünen traditionell gegen Atomkraft sind. Dies könnte zu Spannungen mit anderen, von Atomkraft abhängigen Ländern führen. Wie auch immer die Wahl ausgeht: Deutsche Vermögenswerte werden für globale Anleger attraktive Anlagemöglichkeiten bieten, vor allem am Aktienmarkt, mit einem Schwerpunkt auf den Branchen, die sich am Netto-Null-Ziel bis 2045 orientieren. Branchen, wie grüne Energie und auch der Automobilsektor, könnten auf dem Weg zur E-Mobilität besonders interessant werden.
Ein neuer wirtschaftspolitischer Kurs ist nicht zu erwarten
Investoren sollten keine großen Änderungen in der Wirtschaftspolitik erwarten. Die Ansichten der großen Parteien liegen bei den meisten Themen nicht sonderlich weit auseinander. Höhere öffentliche Investitionen sind notwendig. Und so dürften die Steuerausgaben höher als vor der Coronakrise ausfallen. Aber: Die Art der Koalition wird darüber entscheiden, wie schnell Deutschland zu einem ausgeglichenen Haushalt zurückkehrt, ebenso wie über die Prioritäten bei Steuern, Ausgaben und Reformen. Wir halten eine höhere Verschuldung und eine schwächere Bilanz unter einer SPD-geführten Regierung für wahrscheinlicher.
Europa kann mit Kontinuität in der deutschen Haltung rechnen, also einer gewissen, vorsichtigen Offenheit für die weitere europäische Integration. Die Verabschiedung des EU-Plans der nächsten Generation (NGEU), der durch die Ausgabe von Euro-Anleihen finanziert wird, war ein wichtiger Schritt. Neue Fortschritte könnten wir bei der Kapitalmarktunion und der Vollendung der Bankenunion sehen. In der Finanzpolitik könnte eine SPD-geführte Regierung eine größere Toleranz gegenüber dem Haushaltsdefizit europäischer Partner und mehr Offenheit für eine Anpassung der europäischen Finanzregeln zeigen als die CDU/CSU, um Investitionen zu ermöglichen. In der Außenpolitik müssen Deutschland und die EU ihre Position vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Wettbewerbs zwischen den USA und China bestimmen. Ob die Rivalität zwischen den Großmächten als Anreiz dienen kann, eine eigene, gemeinsame europäische Position zu entwickeln und in der Weltpolitik mit einer Stimme zu sprechen, ist ungewiss.
Von Thomas Kruse, CIO Amundi Deutschland, und Tristan Perrier, Global Views Analyst
Rechtliche Hinweise
Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Informationen in diesem Dokument von Amundi Asset Management und sind aktuell mit Stand 23.09.2021. Die in diesem Dokument vertretenen Einschätzungen der Entwicklung von Wirtschaft und Märkten sind die gegenwärtige Meinung von Amundi Asset Management. Diese Einschätzungen können sich jederzeit aufgrund von Marktentwicklungen oder anderer Faktoren ändern. Es ist nicht gewährleistet, dass sich Länder, Märkte oder Sektoren so entwickeln wie erwartet. Diese Einschätzungen sind nicht als Anlageberatung, Empfehlungen für bestimmte Wertpapiere oder Indikation zum Handel im Auftrag bestimmter Produkte von Amundi Asset Management zu sehen. Es besteht keine Garantie, dass die erörterten Prognosen tatsächlich eintreten oder dass sich diese Entwicklungen fortsetzen.