Anna Rosenberg, Head of Geopolitics am Amundi Investment Institute, und Yerlan Syzdykov, Global Head of Emerging Markets bei Amundi, sehen viele Schwellenländer derzeit in einer Position der Stärke. Warum die Emerging Markets den Investoren gute Wachstumsaussichten bieten könnten und worauf man dennoch achten sollte, erläutern beide im ausführlichen Interview.
Täuscht der Eindruck, oder sehen wir momentan global eine Fragmentierung in Wirtschaft und Politik?
Anna: In der Tat gibt es derzeit eine Vielzahl an Veränderungen und Verschiebungen in den internationalen Beziehungen. Wir haben es nicht mit einem bipolaren System zu tun, als vielmehr mit einem komplexen Netzwerk. Zwischen den großen Kontrahenten USA und China suchen starke Mittel- und Regionalmächte mittlerweile selbstbewusst nach Vorteilen. Wir sehen jüngst und auch in diesem Jahr US-Positionen unter Druck, sei es im Nahen und Mittleren Osten oder in Asien. Ich würde sagen, wir erleben ein Jahr des Übergangs und damit verbunden auch das ein oder andere Machtvakuum, das neu bespielt wird. Ein Beispiel ist Nordkorea, das jetzt Muskeln zeigt, weil es auf einen günstigen Ausgang der US-Wahl hofft und seine Verhandlungsposition stärken will.
Wie wirkt sich denn das geopolitische Umfeld speziell auf die Schwellenländer aus, Yerlan?
Yerlan: Wie skizziert kommen aktuell einige dieser neuen Mittelmächte aus den Schwellenländern in eine aussichtsreiche Position. Die geopolitische Neuordnung verändert die globalen Lieferketten und das kommt beispielsweise Ländern wie Mexiko, Vietnam und Südafrika zugute. Auch nimmt der ökonomische Druck auf die Schwellenländer im Zuge von Umfinanzierung und sinkender Inflation ab. Abgesehen von China, wo die Situation etwas komplexer ist, sehen wir ein auch gutes Momentum für große Schwellenländer, beispielsweise Indien oder Brasilien. Beide haben intakte Wachstums-Storys und wir erwarten hier einen Aufschwung der Wirtschaft und an den Märkten.
Anna: Von einem neutralen Standpunkt aus kann man in beide Richtungen profitieren. Deshalb könnten einige Schwellenländer zu den Gewinnern des Jahres zählen: Etwa in Sachen Einfluss – wie Indien als neuer Schlüsselplayer in der globalen Wertschöpfungskette – oder mit Blick auf neue Abkommen, wie beispielsweise die US-Truppenerweiterung in den Philippinen im militärischen Bereich. Allerdings wird auch die anstehende Wahl des US-Präsidenten im Herbst einen maßgeblichen Einfluss auf die Situation vieler Schwellenländer haben. Mit Biden würde es vermutlich „mehr vom Gleichen“ geben, etwa Limits im Technologie-Sektor sowie Exportkontrollen. Trump hingegen wäre disruptiv, würde Länder mit Handelsdefizit hart bestrafen und auch einen Rückzug aus der NATO bespielen. Davon würden Länder in den Emerging Markets natürlich ganz unterschiedlich betroffen sein.
Wie reagieren Sie als Fondsmanager auf ein so ambivalentes Umfeld, Yerlan?
Yerlan: Wir sollten natürlich auf beide Szenarien eingestellt sein und werden auch in jedem Fall nach unseren Investmentchancen in den entsprechenden Schwellenländern suchen. Krisen schaffen ja nicht nur Risiken, sie bedeuten immer auch, dass jemand profitiert. Das sehen wir bei Indiens Rohstoffpolitik im Zuge des Ukrainekrieges oder hinsichtlich alternativer Handelsrouten zum aktuellen Nadelöhr im Roten Meer.
Wie würden sie derzeit generell das Preisniveau der Emerging Markets bewerten?
Yerlan: Ziemlich attraktiv, würde ich sagen. Sowohl in Relation zu anderen Ländern als auch im Vergleich zur eigenen Historie. Wir sind zwischen 30% und 40% billiger als zu den ehemaligen Höchstständen. Dennoch gilt es auch die Probleme, insbesondere Chinas zu benennen, die zu diesem Preisverfall geführt haben: Sinkende Gewinne und normalisierte Wachstumsraten bei 3 oder 4% sowie demographische Herausforderungen. Doch sind wir auch überzeugt, dass China einen alternativen Wachstumspfad einschlagen wird und dennoch gutes Geld verdienen kann.
Wie steht es um Indien?
Yerlan: Hier sind wir insgesamt recht positiv und sehen gute Wachstumsaussichten, übrigens auch im Zuge der Aufnahme in wichtige Anleiheindizes. Das Land zählt geopolitisch zu den Gewinnern, hat Zugang zu billigen Ressourcen und eine expansive Wachstumsstory. Indien gewinnt gerade Industrien, die China verliert. Auch die demographische Entwicklung gibt Rückenwind. Zudem hat Indien im Vergleich zu China nicht so hohe, unproduktive Militärausgaben und bietet so insgesamt bessere Wachstumsaussichten. Doch sollten Anleger auch bedenken, dass China weiterhin der dominante Faktor der Asset Allokation in den Emerging Markets bleiben wird.
Wie bewerten Sie die Risiken hinsichtlich einer Eskalation im Konflikt um Taiwan, Anna?
Anna: Grundsätzlich sehen wir mit der Wahl einer Anti-chinesischen Regierung unser Basisszenario bestätigt und erwarten 2024 eher eine Beibehaltung des Status Quo als eine Eskalation. Auch wenn Taiwans Militär eine direkte Auseinandersetzung vermeiden will und zudem weiter unklar bleibt, wie weit die USA zum Schutz von Taiwans Unabhängigkeit gehen würden, ist China militärisch noch nicht soweit, um eine Invasion zu wagen. Wenn allerdings eine – wenn auch wenig wahrscheinliche – Eskalation zwischen den USA und dem Iran oder auch mit Nordkorea akut würden, könnte China die Situation vielleicht für die eigene Taiwan-Agenda ausnutzen.
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