Am 15. April gingen die letzten drei deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Damit ist der nach Fukushima beschlossene Atomausstieg endgültig umgesetzt. Die öffentliche Debatte lebt unterdes weiter: um die Risiken der Kernkraft, der Endlagerung von Atommüll, aber auch um die möglichen Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit. Unternehmen aus dem Sektor befinden sich trotzdem in einer spannenden Situation.
Von Hagen Ernst, stellv. Leiter Research und Analyst für die Sektoren Telekom, Technologie, Medien sowie Immobilien und Versorger der DJE Kapital AG
Wie sicher ist die Gasversorgung?
Aus Sicht vieler Experten bleibt fraglich, inwiefern der Ausstieg aus heutiger Sicht sinnvoll oder nicht doch etwas verfrüht sein könnte. Gaskraftwerke als vorgesehene Brückentechnologie zur Stromerzeugung sollten den gleichzeitigen Ausstieg aus Kern- und Kohlekraft ermöglichen. Ohne das günstige Pipelinegas aus Russland ist die langfristige Gasversorgung vom teureren Flüssiggas (LNG) abhängig und keinesfalls gesichert. Im Falle einer deutlichen Wirtschaftserholung in China könnte beispielsweise die Nachfrage anziehen und die Gaspreise wieder deutlich nach oben treiben.
Kohlekraftwerke: umweltschädliche Grundlastversorgung
Für eine sichere Stromversorgung sind aber zuverlässige Grundlastkraftwerke (immer verfügbar) von essenzieller Bedeutung. Die womöglich ökologisch und ökonomisch beste Alternative, Wasserkraft, ist jedoch in Deutschland nicht in ausreichender Form vorhanden. Insbesondere die jetzt wieder eingesetzten Kohlekraftwerke haben eine schlimme CO2-Bilanz. So erzeugt ein Braunkohlekraftwerk ca. 940g CO2 Emission pro kWh und ein Steinkohlekraftwerk etwa 735g CO2 Emission pro kWh. Nicht zuletzt deshalb erfreut sich Kernenergie weltweit immer größerer Beliebtheit. Auch in Europa werden neue Kraftwerke gebaut. Sogar Polen, bisher noch ohne Atomkraft, schließt sich dem Trend an.
Mini-Reaktoren: klein, aber oho!
Zunehmend kommen dabei Mini-Reaktoren im Baukastenprinzip zum Einsatz. Anders als große Kernkraftwerke erzeugen die Mini-Reaktoren statt einer Leistung von mehr als 1.000 Megawatt lediglich Strom von bis zu 300 Megawatt. Dafür benötigen die Mini-Kraftwerke deutlich weniger Bauzeit und sie kosten weniger. Ein Vergleich: Das neue Atomkraftwerk Hinkley Point in Großbritannien mit etwa 3.200 Megawatt kostet rund 37 Milliarden €, eine 300 Megawatt-Anlage nur ca. eine Milliarde €. Auch in puncto Sicherheit gelten die kleineren Anlagen als überlegen. Frankreich und die USA setzen deshalb aktuell verstärkt auf diese Technologie.
Atomkraft: Der Müll bleibt
Ein Problem, für das nach wie vor keine Lösung existiert, ist die Entsorgung von Atommüll. Perspektivisch könnte die Kernfusion Abhilfe schaffen. Und auch wenn Forschern wie beispielsweise Ende 2022 Fortschritte gelingen, ist die Technologie noch weit entfernt von Marktreife oder kommerzieller Nutzung. Hauptproblem sind die sehr starken Laser, die für die Fusion benötigt werden: Sie verbrauchen aktuell noch zu viel Energie.Der Plan der Bundesregierung, sich auf den Ausbau Erneuerbarer Energien zu fokussieren und das Festhalten an Gaskraftwerken als Brückentechnologie klingt zwar plausibel, birgt aber große Risiken. Aktuell gibt es noch keine adäquaten Speichermöglichkeiten für Strom, was aber zwingend erforderlich ist, um Dunkelflauten (wenn weder Wind noch Sonne da ist) zu überbrücken. Grundlastkraftwerke bleiben daher auf absehbare Zeit wichtig. Wenn aber sowohl Kohle- als auch Kernkraftwerke abgeschaltet werden, bleiben neben Wasserkraft (3% der Stromerzeugung) nur Gaskraftwerke übrig. Unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit wäre ein fortlaufender Betrieb der letzten Kernkraftwerke nicht verkehrt gewesen.
Ausbau der Erneuerbaren hinkt hinterher
Bis 2030 soll die Windkraft von aktuell 58 Gigawatt im Jahr 2022 auf 115 Gigawatt nahezu verdoppelt werden. Auch die Solarkapazitäten sollen um 22 Gigawatt pro Jahr auf 215 Gigawatt ausgebaut werden. Doch trotz ambitionierter Pläne, beschleunigter Genehmigungsverfahren und mehr Flächen stockt der Ausbau der Erneuerbaren. 2022 lag der Netto-Zubau bei Photovoltaik bei 7,2 Gigawatt, Wind an Land bei 2,1 Gigawatt sowie auf See 8,1 Gigawatt. In den ersten zwei Monaten von 2023 hat sich das Tempo mit nur 205 Megawatt Wind an Land, 76 Megawatt auf See bzw. 1,7 Gigawatt Photovoltaik nochmals verlangsamt und reicht bei weitem nicht aus, um die ausgerufenen Ausbauziele zu erreichen.
Aktuell kommen erschwerend Inflation und hohe Zinsen hinzu, was auf der Rentabilität zukünftiger Energieprojekte lastet. Vor allem Projektauktionen für Wind an Land sind stark unterzeichnet. Neue Subventionspakete könnten so notwendig werden. Verzögerungen gibt es auch bei den Stromtrassen, um Strom vom Norden in den Süden zu transportieren, wo er benötigt wird. So sollte Südlink eigentlich im letzten Jahr fertiggestellt sein. Neuer Termin ist nun 2027.
Neben den günstigen Wetterbedingungen hat auch die fallende Stromnachfrage ihren Beitrag geleistet, dass die Versorgung mit Strom und Gas über den Winter gewährleistet und bezahlbar war. So sank der deutsche Stromverbrauch 2022 um 4% auf 484,2 TWh. Aufgrund der zunehmenden Elektrifizierung ist aber zukünftig eher mit steigender Stromnachfrage zu rechnen. Hauptreiber sind Elektroautos, Heizungsumstellung auf Luft-Wärme-Pumpe, Elektrifizierung der Industrie (Strom statt Gas oder Kohle zur Erhitzung) sowie möglicherweise energieintensive Rechenzentren im Zuge der künstlichen Intelligenz. Viele Experten gehen deshalb von einer Verdopplung der Stromnachfrage bis 2050 aus.
Strompreis: Stabilisierung auf hohem Niveau wahrscheinlich
Ob der Ausstieg aus Atom- und Kohlekraft bei zunehmender Elektrifizierung gelingen kann, bleibt abzuwarten. Um die Versorgungssicherheit weiter zu gewährleisten, könnte es daher doch erforderlich sein, den geplanten Kohleausstieg bis 2030 etwas hinauszuzögern. Stromerzeugungskapazitäten bleiben somit auf absehbare Zeit ein knappes Gut. Aktuell steht der Forward (Preis am Terminmarkt) für Grundlaststrom im Großhandel bei 150 EUR/MWh für 2024 bzw. 137 EUR/MWh für 2025. Ein Großteil der Experten rechnet mit einer Normalisierung des Strompreises auf 70-80 EUR/MWh. Angesichts der geschilderten Entwicklung bleibt es aber wahrscheinlich, dass sich der Strompreis auf einem eher hohen Niveau stabilisiert.
Perspektiven durch Versorgungsausbau
Laut Verivox ist der Strom in Deutschland mit 31,8 Cent je Kilowattstunde 2,7-mal teurer als im internationalen Durchschnitt. Das trifft vor allem Verbraucher sowie energieintensive Industrien, die im Wettbewerb mit anderen Ländern wie den USA stehen, wo Strom deutlich günstiger ist. Profitieren könnten hingegen Stromerzeuger. RWE beispielsweise will bis 2030 die Kapazitäten bei Erneuerbaren Energien (Wind an Land, Wind auf See, Photovoltaik) auf 50 Gigawatt ausbauen. Angesichts des schnelleren Ausbaus in Deutschland und den USA scheinen die Ausbauziele eher konservativ und könnten erhöht werden. Zudem besitzt RWE eine Reihe „flexibler“ Kraftwerke wie Wasser-, Biomasse- oder Gaskraftwerke, die durch die zunehmende Volatilität der Erneuerbaren Energien an strategischer Bedeutung gewinnen. Im vergangenen Jahr hat sich das EBITDA dieser Kraftwerke auf 2,369 Mrd. € nahezu verdreifacht und sollte auch zukünftig auf hohem Niveau verharren.
Im Rahmen des beschleunigten Ausbaus der Erneuerbaren Energien sowie der oben beschriebenen steigenden Stromnachfrage müssen auch die Stromnetze schneller ausgebaut werden. E.ON plant beispielsweise eine Erhöhung der Investitionen um 20% auf 33 Mrd. € für den Zeitraum 2023 bis 2027, um für das Wachstum des regulierten Stromnetzes von mind. 6% p.a. gewappnet zu sein. Die Zukunft der Energieversorgung bleibt also besonders aus deutscher Sicht ein anspruchsvolles Thema und der Sektor der Energieversorger spannend für Anlegerinnen und Anleger.
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