Selbst wenn sich die diesjährigen extremen Entwicklungen 2023 nicht fortsetzen, mangelt es nicht an Herausforderungen. Anleger haben aber zumindest eine größere Auswahl.
"Einer milden Rezession 2023 dürfte ebenfalls ein nur milder Aufschwung folgen, bei immer noch hohen Inflationsraten. Das bietet geringes Aufwärtspotenzial für Aktien und interessante Perspektiven für Anleihen, die als attraktive Alternative zurückgekehrt sind. "
Bjoern Jesch, Global Chief Investment Officer
Es hätte sicherlich langweiligere Zeiten geben können, um den Posten des Chief Investment Officer der DWS zu übernehmen und die Prognosen für 2023 vorzustellen. Für die Aufzählung allein der großen strukturellen Brüche und Herausforderungen reicht eine Hand nicht aus: rekordhohe Inflation; das Ende der extrem lockeren Geldpolitik; das Ende Chinas als deflationsexportierende Wachstumsmaschine; die andauernden Angriffe auf den globalen Handel; der immer mehr Ländern zusetzende demographische Wandel; die Kosten (und Chancen) der Dekarbonisierung; und letztlich der Ukraine-Konflikt, dessen weiterer Verlauf unvorhersehbar ist. Allerdings handelt es sich selbst bei letzterem zumindest um ein „known unknown “1 Kapitalmärkte erleben ja immer dann die größten Einbrüche, wenn sie mit unbekannten Veränderungen konfrontiert werden, wenn die Unsicherheit am höchsten ist und wenn die Geschwindigkeit der Veränderungen eine negative Eigendynamik entwickelt. So gesehen dürfte es dem Jahr 2023 schwerfallen, das ablaufende Jahr zu übertreffen. Schließlich muss man, um vergleichbare Renditesprünge und Leitzinserhöhungen wie 2022 zu sehen, schon einige Jahrzehnte in der Kapitalmarkthistorie zurück gehen. Vom Krieg einer Großmacht auf europäischen Boden und den damit einhergehenden Inflationsschüben und Sorgen um die Energieversorgung ganz abgesehen. Auch das Thema China-Taiwan entwickelte dieses Jahr eine neue Dynamik. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass auch 2023 noch bisher „undenkbare“ Sachen geschehen werden. Wie nervös die Anleger weiterhin sind, zeigen die hohen implizierten Volatilitäten insbesondere an den Renten- und Devisenmärkten, aber auch am Aktienmarkt überraschen selbst Schwergewichte mit Tagesschwankungen im zweistelligen Bereich.
Aus heutiger Sicht würden wir das Anlagejahr 2023 wie folgt zusammenfassen: es mangelt nicht an Herausforderungen – nicht zuletzt erwarten wir Rezessionen in den USA und Europa – und die Ertragsaussichten für Aktien sind bescheiden. Gleichzeitig dürften aber starke Arbeitsmärkte, vergleichsweise solide Bilanzen der Haushalte und Unternehmen und nicht zuletzt die bereits 2022 erfolgten Preisanpassungen weiteren Kursverlusten im ähnlichen Ausmaß im Wege stehen. Ebenfalls positiv aus Anlegersicht werten wir den Umstand, dass nach dem annus horribilis für gemischte Portfolios – Aktien, Anleihen und Segmente der alternativen Anlagen erlitten gleichermaßen Schiffbruch – es sich jetzt wieder lohnt, Anlagen zu diversifizieren. Nicht zuletzt, da es auf Anleihen endlich wieder etwas zu verdienen gibt. Risikoanlagen sind also nicht mehr „alternativlos“. Anleihen aus Schwellenländern und Unternehmensanleihen, insbesondere aus dem Hochzinssegment, locken unseres Erachtens bereits jetzt mit so attraktiven Renditen, dass selbst eine erneute Ausweitung der Risikoprämien verkraftbar wären. Selbst Staatsanleihen sind wieder eine Alternative, da wir davon ausgehen, dass die amerikanische (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) im kommenden Jahr den Höhepunkt ihres Zinserhöhungszyklus erreicht haben werden. Die Rentenmärkte werden Ende 2023 auf die erwarteten Zinssenkungen der Folgejahre schauen und unseres Erachtens daher bis dahin nur noch sehr geringe Renditeerhöhungen fürchten müssen. Für 2-jährige US-Treasuries erwarten wir sogar einen Renditerückgang, so dass die Zinskurve wieder leicht ins Positive drehen dürfte.
Wir sind uns jedoch bewusst, dass die Reaktionsfunktion der Zentralbanken im kommenden Jahr schwer vorhersehbar ist. Schließlich sehen sich die Währungshüter der gleichen Herausforderung wie alle Markt- und Wirtschaftsteilnehmer gegenüber: ein in seiner Konstellation sehr ungewöhnliches Inflationsmuster. 2 Wir rechnen zwar mit einem Rückgang der Verbraucherinflation in den USA von 8,2 auf 4,1 Prozent und in der Eurozone von 8,4 auf 6,0 Prozent, aber auch das sind natürlich immer noch beunruhigende Höhen, insbesondere da sie sich aus der Breite, auch Lohnabschlüssen, und nicht mehr nur aus Rohstoffpreisen ergeben. Die Arbeit der Zentralbanken ist daher auch 2023 noch lange nicht getan und wir gehen davon aus, dass sie auch unter Inkaufnahme einer Rezession restriktiv bleiben werden.
Das fortbestehende Inflationsrisiko ist letztlich einer der Gründe, warum wir Aktien weiterhin für unerlässlich halten, auch wenn ihnen von einigen Richtungen Gegenwind droht. Wir sehen als größtes Hindernis ein überschaubares Gewinnsteigerungspotenzial, da viele Sektoren mit sehr üppigen Gewinnmargen ins neue Jahr gehen. Auf der Bewertungsseite wiederum dürften die weiterhin hohen Inflationsraten sowie die Realzinsen (rund 1,5 Prozent in den USA) belastend wirken. Letzteres hilft zwar dem Goldpreis, doch denken wir, dass das Edelmetall von hohen Käufen der Zentralbanken, dem fortbestehenden geopolitischen Risiko sowie der Inflation profitieren wird. Der Dollar dürfte unserer Meinung nach insbesondere gegenüber dem Euro seine stärkste Phase bereits hinter sich gelassen haben.
Insgesamt gehen wir gleichermaßen mit einer angemessen demütigen, aber auch verhalten optimistischen Haltung in das kommende Jahr. Wir rechnen mit einem nervösen Seitwärtshandel an den Märkten, und der weiteren Suche nach neuen Gleichgewichten in der immer noch relativ frischen geldpolitischen Realität. Dem Thema Diversifikation wird 2023 wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, da wir nicht mit einem erneuten Gleichlauf von Renten und Aktien rechnen. Wir sehen jedoch die Gefahr, dass die Anleger auf vermeintliche Wendepunkte überhastet handeln könnten, insbesondere was die Inflationsentwicklung und die Kehrtwende der Zentralbanken angeht. Aber auch die drohende Rezession könnte bei Teilen des Marktes schon abgehakt werden, bevor sie überhaupt beginnt und ihr Verlauf absehbar ist. Auch im Jahr 2023 werden nicht einzelne Datenpunkte das Marktgeschehen längerfristig treiben, sondern das komplexe Zusammenspiel nachhaltiger politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen.
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Alternative Anlagen sind mit diversen Risiken behaftet, nicht unbedingt für jeden Anleger geeignet und für jedes Portfolio verfügbar.
DWS Investment GmbH, as of 21.11.2022 - 093273_1 (11/22) (11/26)
Fußnoten
1 In der Diktion des ehemaligen US-Außenministers Donald Rumsfeld, der al „unknown unknowns“das beschrieb, was den Schwarzen Schwänen an den Finanzmärkten am nächsten kommt.
2 Störungen auf der Angebotsseite treffen auf einen, auch demographisch bedingt, robusten Arbeitsmarkt und relativ hohe Ersparnisse; während die Effekte der Covid-Lockdowns und der staatlichen Hilfen viele Zahlenreihen stark durcheinanderwirbeln.