1. Die Zeitenwende
Bundekanzler Olaf Scholz hat am 27.02.2022 in einer Regierungserklärung im Bundestag die „Zeitenwende“ ausgerufen. Die eigentliche Bedeutung dieses Begriffs geht weit über die notwendige politische Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage müsste eine Zeitenwende, die den Namen verdient, das gesamte Staatshandeln, insbesondere die Wirtschafts- und Finanzpolitik, umfassen.
Diese notwendige wirtschafts- und finanzpolitische Zeitenwende ist bis heute in Deutschland blockiert. Das Ausbleiben einer Renaissance des Marktparadigmas hätte gravierende Konsequenzen für den Wohlstand der Bürger.
Im Gegensatz zu Deutschland sind die USA mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten einen wesentlichen Schritt weiter. Die angekündigten Disruptionen in den USA bieten zumindest die Chance, dass dortige Blockaden der wirtschaftspolitischen Zeitenwende gelöst werden.
2. Zeitenwenden in der Geschichte der Bundesrepublik
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt durch das Hin- und Herschwanken zwischen den zwei entgegengesetzten Paradigmen Markt und Staat. Auf der einen Seite geht das Marktparadigma davon aus, dass Märkte die effiziente Art und Weise sind, wirtschaftliche Aktivitäten zu organisieren und Ressourcen zu verteilen. Ausgangspunkt ist die individuelle Handlungsfreiheit und die Möglichkeit, Angebot und Nachfrage in einem Wettbewerbsprozess zu koordinieren. Der Staat stellt die Rahmenbedingungen, insbesondere indem er Recht und Ordnung durchsetzt.
Auf der anderen Seite steht das Staatsparadigma. Hier hat der Staat eine sehr viel aktivere und umfassendere Rolle. Es werden Marktversagen oder unerwünschte soziale Ergebnisse diagnostiziert. Weitreichende Interventionen des Staates durch Subventionen und ein dichtes Regulierungsnetz sollen den Wirtschaftsprozess zielgenau steuern. Der Staat stellt darüber hinaus umfassende Sozialleistungen zur Verfügung und sorgt über das Steuersystem für Einkommens- und Vermögensumverteilung.
Die Wechsel zwischen Markt- und Staatsparadigma sind in der Bundesrepublik durch Zeitenwenden gekennzeichnet. Die Dynamik der Paradigmenwechsel verläuft asymmetrisch. Ein Paradigmenwechsel hin zu einem neuen Staatsparadigma wird üblicherweise durch ein unterstützendes dominantes intellektuelles und politisches Klima angetrieben. Ein Paradigmenwechsel hin zum Marktparadigma wird insbesondere durch eine kriseninduzierte Einsicht in die Notwendigkeit für liberale Reformen angetrieben.1
Nach der vollständigen Zerstörung des Landes durch den Nationalsozialismus startete die Bundesrepublik unter dem Eindruck der US-amerikanischen Besatzungsmacht mit dem Marktparadigma, der Sozialen Marktwirtschaft. Deutschland erlebte das „Wirtschaftswunder“. Mitte der 1960er Jahre änderte sich der Zeitgeist. Die erste Rezession der Bundesrepublik beendete die Kanzlerschaft von Ludwig Erhard und führte zur ersten Großen Koalition. Der neue Wirtschaftsminister Karl Schiller prägte mit seinem Konzept der Globalsteuerung die Dominanz des Staatsparadigmas. Ende der 1970er Jahre wird die Reformbedürftigkeit der Wirtschaftspolitik unter dem Schlagwort „Stagflation“ deutlich. Anfang der 1980er Jahre kam in der gesamten westlichen Welt wieder das Marktparadigma zurück, verbunden mit den Namen Kohl, Thatcher und Reagan. In den 1990er Jahren, im Zuge der Wiedervereinigung, überwog wieder das Staatsparadigma. Man vertraute dem Staat und nicht dem Markt die Angleichung der Lebensverhältnisse an. Unter dem Schlagwort „Deutschland – der kranke Mann Europas“ wurde 1999 der Reformstau und die Wirtschaftsschwäche deutlich. Die Antwort darauf war die Reformagenda 2010 von Kanzler Gerhard Schröder, so dass Anfang der 2000er Jahre für kurze Zeit wieder das Marktparadigma dominierte. Unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel kam das Staatsparadigma zurück und wurde unter der Ampel Regierung auf die Spitze getrieben.
3. Warum gibt es zu viel Staat?
Treiber dieser jüngsten Entwicklungen waren die unterschiedlichen Krisen in den letzten 20 Jahren.2 Finanzkrise, Eurokrise, Fukushima, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise, Krieg gegen die Ukraine, alle diese Schocks trafen auf einen Zeitgeist, der die Lösungen im Staatsparadigma suchte. In jeder dieser Krisen hat der Staat seinen Einfluss in Wirtschaft und Gesellschaft massiv ausgebaut.
Möglich war dieser Ausbau des Staatsparadigmas durch die expansive Geldpolitik der EZB. Das billige Geld hat die marktwirtschaftlichen Grundpfeiler der deutschen Wirtschaft unterhöhlt3 und dem Staat durch niedrige Zinsen und umfangreiche Ankäufe von Staatanleihen scheinbar unendlichen Handlungsspielraum ermöglicht. In der Vergangenheit war die Deutsche Bundesbank eine wichtige Unterstützung für die Durchsetzung des Marktparadigmas in der Bundesrepublik, da sie keine Staatsanleihen kaufte. Die EZB sollte eigentlich ihre Nachfolgerin sein. Im Zuge der Eurokrise hat sich aber herausgestellt, dass sie der Geldpolitik der Banca d‘Italia folgt. Heute steht die EZB unter der Fiskaldominanz überschuldeter Staatshaushalte. Die Rückkehr zu einer straffen Geldpolitik ist dadurch in weite Ferne gerückt.4
Im Zuge der Ausbreitung des Staatsparadigmas kam es zu einer zunehmenden Regulierungsdichte und einer wuchernden Bürokratie. Diese Entwicklung beansprucht viele Ressourcen und behindert nicht nur unmittelbar das Produktivitätswachstum der gesamten Wirtschaft, sondern wirkt sich auch mittelbar negativ auf die Produktivitätsgewinne im privaten Sektor aus.5 Wachsende Staataufgaben binden immer mehr Beschäftigte. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels ist die zunehmende Nachfrage von Arbeitskräften in der öffentlichen Verwaltung problematisch. Noch gravierender sind die negativen Rückkopplungseffekte in den privaten Sektor. Die zunehmende bürokratische Last geht auf Kosten der Effizienz privater Unternehmen. Die vielen und zunehmend komplexen Vorschriften sind wie Sand im Getriebe privater Unternehmen.6
4. Welche Blockaden bestehen?
Erstens ist die Logik der Klimapolitik fest in der deutschen Politik verankert, quer durch die politischen Parteien. In der Folge hat sich der Maßstab wirtschaftspolitischer Debatten verschoben. Während man sich in der Vergangenheit darüber stritt, auf welchem Weg mehr Wachstum erreicht werden kann, ist das Ziel Wirtschaftswachstum durch die Klimapolitik grundsätzlich in Zweifel gezogen. Dem keynesianischen Dirigismus der 1970er Jahre konnte ideologisch die Überlegenheit des Wettbewerbs als Wachstumsmotor entgegengesetzt werden. Dieses Argument funktioniert bei relativ hohem Wohlstand und angedrohtem Kipppunkt des Weltklimas nicht mehr. Wenn überhaupt Wachstum, so müsse es „richtiges“ Wachstum sein, notfalls aber Deindustrialisierung. Das fehlerhafte Argument der Begrenztheit des Wachstums war schon durch das berühmte Gutachten des „Club of Rome“7 in den 1970er Jahren im Umlauf, hatte aber vor 50 Jahren noch nicht die gleiche politische Durchsetzungsfähigkeit. Klimapolitik ist heute ein Einfallstor für staatlichen Dirigismus und steht der Rückkehr des Marktparadigmas im Weg.
Zweitens ist der Populismus in Deutschland mittlerweile zu einer Blockade der Zeitenwende herangewachsen. Als die sozialliberale Koalition unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt auseinanderbrach und das so genannte „Scheidungspapier“, die wirtschaftspolitischen Thesen des damaligen Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff, in der Bonner Republik zirkulierte, bestand der Bundestag aus drei Parteien. Helmut Kohl konnte in einem konstruktiven Misstrauensvotum die Regierungswechsel und damit auch den Politikwechsel vollziehen. Diese Möglichkeit war beim Ampel-Aus nicht mehr gegeben. Die Koalitionsunfähigkeit der AfD blockiert eine neue Mehrheit im Parlament rechts der Ampel. Im neuen Bundestag könnte auch das BSW in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen. Die Gefahr besteht, dass populistische Parteien die 2/3 Mehrheit im Parlament blockieren können und so den politischen Bewegungsspielraum empfindlich einschränken.
Drittens, selbst wenn es in Deutschland eine Mehrheit für die Rückkehr des Marktparadigmas gäbe, muss diese Zeitenwende auch auf der europäischen Ebene eine Mehrheit finden.8 Klimapolitik und der zunehmenden Regulierungsdichte werden von der Europäischen Kommission zum Beispiel durch den „Green Deal“ angetrieben. Entscheidungen wie das „Verbrenneraus“ bedrohen die industrielle Substanz Deutschlands. Ein wichtiger Teil der Wiederkehr des Marktparadigmas ist die Konsolidierung des Haushalts unter der disziplinierenden Fiskalregel einer Schuldenbremse. Innerhalb der europäischen Währungsunion macht die Schuldenbremse aber nur Sinn, wenn sie in allen Mitgliedsländern eingehalten wird. Aufgrund der bereits hohen Schuldenständen in anderen europäischen Ländern ist es wahrscheinlicher, dass eine Vergemeinschaftung der Schulden auf europäischer Ebene und die Reduktion der Schuldenlast durch Inflation angestrebt wird. Eine glaubwürdige Rückbesinnung auf das Marktparadigma wird unter diesen Umständen fast unmöglich.
5. Welche Lösungen bieten sich an?
Die Energiewende in ihrer jetzigen Form ist gescheitert. Die daraus resultierende Deindustrialisierung führt zu erheblichen Wohlstandseinbußen, ohne dass dadurch dem Klima geholfen würde. Durch den Weggang von Industrien und den Nachfragerückgang nach fossilen Rohstoffen wird der CO2-Ausstoß nicht begrenzt, sondern nur verlagert und im Zweifel durch den Preisrückgang in anderen Teilen der Erde sogar gefördert.9 Ein wichtiger Teil der Zeitenwende im Energiesektor wäre der Wiedereinstieg in die Atomenergie, um die schwankungsanfälligen Energiequellen Wind und Sonne zu ergänzen.
Die neue europäische Kommission hat erkennen lassen, dass sie wieder mehr auf Wettbewerbsfähigkeit und weniger auf den Green Deal achten will. Diese Entwicklung muss aus Deutschland entschiedener unterstützt werden. Die Rückabwicklung der Green Deal – Politik, etwa durch eine Aussetzung der EU-Taxonomie oder die Zurücknahme des Verbotes für Verbrennungsmotoren, wären erste wichtige Schritte. Um die Zeitenwende hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen, wäre ein neuer Impuls für globalen Freihandel notwendig. Die EU könnte durch den Verzicht auf Klimazölle oder Gegenzölle als Antwort auf den amerikanischen Protektionismus Zeichen setzten.
Eine glaubwürdige Strategie gegen den wachsenden politischen Populismus von rechts und links wäre die Rückbesinnung auf eine klare Unterscheidbarkeit der Parteien rechts und links innerhalb des demokratischen Spektrums. Koalitionen jenseits von schwarz-gelb und rot-grün sollten nicht angestrebt werden. Nur so haben die politischen Parteien eine realistische Chance, ihre Integrationskraft an den politischen Rändern auszuüben und die drohende politische Blockade zu verhindern.
Den USA ist es gelungen, in der diesjährigen Präsidentschaftswahl eine klare Richtungsentscheidung zu treffen. Es besteht zumindest die Chance, dass mit der maximalen Disruption die Zeitenwende in den USA geschafft wird. Ein Umschwung zum Marktparadigma ist heute auch in Deutschland nur mit Disruption möglich. Insofern hat Christian Lindner recht, wenn er mehr Milei und Musk fordert.10