von Norbert F. Tofall
Dass Gott Hermes der Gott der Diebe und der Kaufleute ist, verweist auf das Vorurteil, dass Handel ein Nullsummenspiel sei – wenn nicht sogar ein Negativsummenspiel. Besondere Kraft erheischt dieses Vorurteil, wenn der Handel nicht nur im direkten Tausch von Waren und Dienstleistungen besteht, sondern wenn der Handel erleichternd mit Hilfe des Tauschmittels Geld abgewickelt und so die direkten und indirekten Tauschhandlungen komplexer und unübersichtlicher werden. Fast schon omnipotente Kraft scheint dieses Vorurteil zu entwickeln, wenn mit Hilfe von Geld und Geldverleih intertemporale Tauschhandlungen ermöglicht werden. Heute dürften die vielfältigen Angriffe auf den internationalen Finanzkapitalismus und die Globalisierung Ausdruck für den noch immer lebendigen Gott Hermes im Gemüt vieler Menschen sein.
Historisch stellt das von Platon (428 bis 349 v. Chr.), Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) und Seneca (1 bis 65 n. Chr.) geforderte Zinsverbot, das auch im Alten Testament der Bibel und im Koran zu finden ist, eine Folge dieses Vorurteils dar. Während sich jedoch im Christentum seit dem 13. Jahrhundert eine allmähliche Lockerung des Zinsverbots entwickelte, die sich seit dem Jahr 1500 beschleunigte und dann dazu führte, dass die römisch-katholische Kirche 1822 das Zinsverbot auch formal aufhob, setzte im Islam in der Neuzeit eine Gegenbewegung ein, sodass im islamischen Denken Gott Hermes auch heute noch sehr lebendig zu sein scheint. Gott Hermes ist nicht totzukriegen.
Doch wie entstand im 13. Jahrhundert aus dem Vorurteil gegen Handel und Geld der Begriff des Kapitals? Und könnten nicht viele aktuelle ökonomische Probleme und insbesondere die Wachstums-, Investitions- und Produktivitätsschwäche der westlichen Staaten darauf zurückzuführen sein, dass in unseren westlichen Gesellschaften das ökonomische und politische Denken und Handeln hinter den im 13. Jahrhundert entstandenen Kapitalbegriff vielfältig zurückgefallen ist?
I.
Wenn Handel ein Nullsummenspiel oder gar ein Negativsummenspiel sein sollte und die Gewinne aus dem Handel Diebstahl, dann liegt es nahe, dass Zinsforderungen aus Geldverleih ebenfalls eine Form von Diebstahl bzw. Wucher darstellen und damit sündhaft sind. Die ökonomische Entwicklung in Europa vom 11. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, die eine enorme Zunahme des allgemeinen Wohlstands erzeugt hatte, strafte diese Vorurteile jedoch Lügen. Eine Zunahme des allgemeinen Wohlstands, d.h. des Wohlstands für alle, hätte es in einem Null- und Negativsummenspiel einfach nicht geben können. Die ökonomische Entwicklung des 11. bis 13. Jahrhunderts führte deshalb dazu, dass Moraltheologen1 des 13. Jahrhunderts die herrschenden Verhältnisse genauer analysierten. Zu diesem Zweck gingen sie – in heutiger Begrifflichkeit übersetzt – den erkenntnisleitenden Fragen nach, unter welchen Bedingungen der Handel kein Null- oder Negativsummenspiel (Wucher) ist und wann Zinsforderungen gerechtfertigt sind.
Besonders hervorsticht, dass der Franziskanerpater Petrus Johannis Olivi (1248 bis 1298) – und damit ausgerechnet ein prominenter Vertreter der radikalen Armutsfraktion des Franziskanerordens – in seinem 1293/1294 verfassten und 1295/1296 überarbeiteten „Traktat über Verträge“2 eine derartige Rechtfertigung vorgelegt hat, indem er einen Begriff des Kapitals entwickelte,3 der an den modernen Kapitalbegriff der Österreichischen Schule der Nationalökonomie erinnert.
In der Österreichischen Schule werden seit Eugen von Böhm-Bawerk (1851 bis 1914) mit „Kapital“ die mit Marktpreisen bewerteten Einsatzgüter für die Produktion verstanden. Kapital sind also nur jene mit Marktpreisen bewerteten Güter, die zu einem bestimmten Zweck, nämlich dem der Produktion, verwendet werden. Und die Bewertung von Kapitalgütern kann nur durch Marktpreise erfolgen und damit nur durch die subjektiven Bewertungen von Menschen, die Güter nachfragen und anbieten – oder genauer: Kapitalgüter nachfragen und anbieten oder Geld in Kapitalgüter investieren. Dass durch diese Definition „Kapital“ und „Geld“ unterschieden werden müssen, liegt auf der Hand, obwohl heute nicht nur umgangssprachlich, sondern auch in der Finanzindustrie und selbst in ökonomischen Fachkreisen die Begriffe „Geld“ und „Kapital“ oftmals und mit fatalen Folgen synonym verwendet werden. Selbst Karl Marx (1818 bis 1883) hat die Unterscheidung von Geld und Kapital letztlich durch sein Schema der Umwandlung von Geld in Ware in Geld (G-W-G) verwischt und redet sogar von „Geldkapital“.
Grund für die Begriffsverwirrung ist, dass Marx „Kapital“ als homogenen Stoff betrachtete, der übrigbleibt, wenn man die Entlohnung der Arbeit von der gesamten Wertschöpfung abzieht. Da Marx die „objektive“ Arbeitswerttheorie von Adam Smith kopierte, nach welcher der ökonomische Wert einer Ware durch die zur ihrer Herstellung nötige Arbeitszeit bestimmt wird, erschien ihm Kapital als Mehrwert, den sich der Kapitalist angeblich ohne eigene Leistung aneignet. Die politische Folgerung daraus ist, den Kapitalisten zu enteignen und die Produktionsmittel dem Gemeinbesitz zuzuführen.
Nicht genug betont werden kann, dass bereits die „objektive“ Arbeitswerttheorie von Adam Smith erkenntnis- und markttheoretisch nicht haltbar ist und Karl Marx von Adam Smith ausgerechnet ein falsches, nicht haltbares Theorieelement übernommen hat, welches bereits dem erkenntnistheoretisch begründeten Subjektivismus von Olivi vom Ende des 13. Jahrhunderts widerspricht. Dieser auf Anmaßung von Wissen beruhende „Objektivismus“ zieht sich von Karl Marx über die Neoklassik bis zum heutigen Mainstream der Ökonomik durch die Geschichte. Auch bei den meisten geldpolitischen Entscheidungen der EZB ist dieser „Objektivismus“ stillschweigend am Werk, da die EZB ständig Urteile über den angeblich „objektiv“ richtigen Leitzins fällt, dabei aber letztlich im Nebel stochert.4
Beide Elemente des modernen Kapitalbegriffs – der auf die Produktion gerichtete Verwendungszweck und die subjektive Wertlehre – finden sich bereits ausführlich erörtert in Olivis „Traktat über Verträge“ aus dem 13. Jahrhundert. Und auch die Unterscheidung zwischen Geld und Kapital findet sich dort. Die Unterscheidung zwischen Geld und Kapital bildet die entscheidende theoretische Grundlage für die allmähliche Abkehr vom Zinsverbot seit dem 13. Jahrhundert.
Durch die Unterscheidung von Geld und Kapital gelingt es, zwischen ungerechtfertigten Zinsforderungen oder Wucher und gerechtfertigten Zinsforderungen zu unterscheiden. Denn Zinsforderungen aus einer Geldleihe, die zum Zweck der Investition in Kapitalgüter erfolgt, können jetzt – weil auf die Produktion und damit auf das Gemeinwohl gerichtet – gerechtfertigt und vom Wucher unterschieden werden. Aber auch Fragen des intertemporalen Handels gelangen zu einer neuen Beurteilung.
Die Unterscheidung von Geld und Kapital hinsichtlich intertemporalen Handels illustriert Olivi an einem Beispiel: Angenommen, jemand hat beschlossen, sein Getreide nicht sofort auf den Markt zu bringen, sondern das Getreide erst später zu verkaufen, wenn ein höherer Preis zu erzielen ist. In dieser Situation bittet eine andere Person ihn, das Getreide jetzt zu verkaufen. Olivi vertritt die Ansicht, dass der Eigentümer des Getreides den für den späteren Zeitpunkt erwarteten höheren Preis verlangen kann, ohne sich dem Vorwurf des Wuchers auszusetzen.5 Olivi argumentiert wie folgt:
„Der Grund aber, warum er es [das Getreide] zu diesem Preis verkaufen oder tauschen kann, ist einerseits: Der, dem er es leiht, ist ihm zu einer mit Wahrscheinlichkeit gleichwertigen Leistung verpflichtet bzw. dazu, ihn vor dem Verlust eines wahrscheinlichen Gewinns zu bewahren; andererseits: Das, was nach dem festen Vorsatz seines Besitzers dazu bestimmt ist, einen wahrscheinlichen Gewinn abzuwerfen, hat nicht nur den Charakter des einfachen Geldes bzw. der einfachen Sache, sondern darüber hinaus noch eine gewinnträchtige Beschaffenheit, die wir gemeinhin Kapital nennen, und daher muss nicht nur sein einfacher Wert erstattet werden, sondern auch der Mehrwert.“6
Von dieser moraltheologischen Rechtfertigung einer Entlohnung des Kapitals bis zur vollständigen Aufhebung des Zinsverbots war es noch ein weiter Weg. Die Unterscheidung von Geld und Kapital ist jedoch auch heute höchst relevant.
II.
Die heute sowohl in der Finanzindustrie als auch in ökonomischen Fachkreisen verbreitete synonyme Verwendung der Begriffe „Geld“ und „Kapital“ hat fatale ökonomische und politische Konsequenzen. Es scheint sogar ein Rückfall hinter den im 13. Jahrhundert entwickelten Kapitalbegriff zu drohen.
So hatte sich vor einigen Jahren der französische Ökonom Thomas Piketty mit historischen Einkommens- und Vermögensverteilungen des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt und die Ergebnisse seiner Untersuchungen – wohl in Anlehnung an sein großes historisches Vorbild Karl Marx – unter dem Titel „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ veröffentlicht. Das Buch wurde zu einem Bestseller und hat seit seiner Veröffentlichung trotz fundierter ökonomischer Kritik die Forderungen nach erhöhter Vermögensbesteuerung weltweit befeuert. Dabei zeigte bereits die Zeitachsenumkehr von der Einkommens- und Vermögensverteilung im 19. und 20. Jahrhundert zum Kapital im 21. Jahrhundert, dass Piketty die Begriffe „Vermögen“ und „Kapital“ nach schlechtem marxistischen Brauch gleichgesetzt hat, obwohl beide Begriffe strikt zu trennen sind.
Kapital sind – wie oben bereits ausgeführt – die von Individuen subjektiv mit Marktpreisen bewerteten Kapitalgüter. Kapitalgüter sind jene Produktionsfaktoren, die in jeder Zwischenetappe eines konkreten Produktionsprozesses benötigt werden. Kapitalgüter können nur in einem subjektiven und teleologischen Kontext verstanden werden; denn aus dem vom Akteur verfolgten Produktionsziel und seiner subjektiven Perspektive, seinen individuellen Präferenzen und Einschätzungen sowie seinem individuellen Wissen ergeben sich die Zwischenetappen und ihre Bewertungen.
Das heißt erstens, dass nicht jeder Vermögensgegenstand – auch Geld nicht – ein Kapitalgut ist. Eine Kunstsammlung und ein Ferrari können ein erhebliches Vermögen darstellen, sind aber meistens keine Kapitalgüter und deshalb nicht zum Kapital zu rechnen. Sie stellen meistens keine Zwischenetappen und keine Einsatzgüter oder Produktionsfaktoren in einem Produktionsprozess dar. Sie werden nur dann zu Kapitalgütern, wenn sie nach subjektiver Einschätzung und individueller Präferenz eines Akteurs in einem Produktionsprozess zur Erreichung des Produktionszieles benötigt werden.
Entsprechend ist zweitens die Bewertung dieser Kapitalgüter höchst subjektiv. Der eine Produzent hält sie für überflüssig und bewertet diese Güter deshalb mit Null. Der andere Produzent hält diese Kapitalgüter für unbedingt erforderlich, ein weiterer nur unter bestimmten Bedingungen. Und natürlich können alle irren. Wer welchen Erfolg haben wird, zeigt sich erst in der Zukunft. Daraus folgt allgemein, dass Kapitalgüter nur mit Marktpreisen bewertet werden können, also mit Preisen, welche die subjektiven und individuellen Ziele und Präferenzen der Menschen und ihre subjektiven und individuellen Einschätzungen über die zukünftigen Zahlungen, die durch die Endprodukte auf dem Markt vielleicht erzielt werden, widerspiegeln. Die Höhe des Kapitals, der Kapitalwert, ergibt sich deshalb aus den zukünftigen, abdiskontierten Erwartungen der handelnden Menschen, nicht aus Vergangenheitswerten.
Drittens sollte beachtet werden, dass sich reiche und arme Volkswirtschaften nicht dadurch unterscheiden, dass reiche Volkswirtschaften mehr Güter und Arbeit einsetzen und einen höheren technologischen Wissensstand haben. Reiche und arme Volkswirtschaften unterscheiden sich hauptsächlich durch den Grad und die Art und Weise der Verknüpfung und Verflechtung von Kapitalgütern oder, anders formuliert, im Grad und in der Art und Weise der direkten und indirekten Kooperation von Individuen. Historisch gab es bislang kein Land, das mehr Güter und Arbeit zur Produktion eingesetzt hat als die Sowjetunion unter Stalin. Trotzdem ist die Sowjetunion dadurch kein reiches Land geworden, sondern nach langem Siechtum 1991 zusammengebrochen. Entscheidend für Reichtum sind die richtigen Regeln und Regelsysteme. Und in der Sowjetunion gab es aufgrund der Planwirtschaft kein Regelsystem namens Marktpreise, mit denen Kapitalgüter hätten bewertet und auf dieser Bewertungsgrundlage einer sinnvollen Verwertung dezentral zugeführt werden können.
Eines der wichtigsten Regelsysteme einer Gesellschaft ist die Geldordnung. Geld soll die direkte und indirekte Kooperation von Menschen, die Verknüpfung und Verflechtung von Kapitalgütern, erleichtern. Spiegeln die Menge und der Wert des Geldes nicht die individuellen Ziele und Präferenzen der Menschen wider, sondern wird die Geldmenge und ihr Wert manipuliert,7 gerät nicht nur die direkte und indirekte Kooperation von Menschen und die Verknüpfung und Verflechtung von Kapitalgütern mit der Folge von Wachstumseinbußen und Strukturproblemen durcheinander. Geldmengenmanipulation führt zur Umverteilung, weil sich das Preisniveau nicht für alle gleichzeitig ändert. Wer in unserem heutigen Geldsystem als Erster aus dem Nichts neu geschöpftes Geld besitzt, kann noch zu alten Preisen kaufen und sein Vermögen vergrößern, während alle anderen zu gestiegenen Preisen kaufen müssen. Den dadurch ausgelösten Umverteilungseffekt hatte im 18. Jahrhundert bereits Richard Cantillon (1680–1734) analysiert.
In unserer Zeit hat die unbegrenzte Kreditgeldschöpfung aus dem Nichts seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zu einer enormen Umverteilung geführt, zu einer Ungleichheit, die auch Thomas Piketty mit seinen ökonometrischen Daten herausgearbeitet zu haben scheint. Da Piketty jedoch weder Vermögen und Kapital unterscheidet noch den durch die ungebremste Kreditgeldschöpfung seit Anfang der 70er Jahre ausgelösten Cantillon-Effekt berücksichtigt, argumentiert er auf grandiose Art und Weise auf 800 Seiten am Problem des Kapitals im 21. Jahrhundert vorbei. Denn zur Lösung der Probleme des Kapitals im 21. Jahrhundert benötigen wir keine weltweite Neuverteilung des Kapitalstocks und keine weltweite egalisierende Besteuerung und den totalen Zugriff auf den Menschen. Wir brauchen eine marktwirtschaftliche Geldordnung. Wir brauchen eine Geldordnung, in welcher Geld nicht manipuliert wird und in welcher die Kapitalgüter durch Preise bewertet werden, welche die individuellen Ziele und Präferenzen der Menschen widerspiegeln. Denn dann sind auch Wohlstand für alle und Wachstum wieder möglich.
Dass diese Zusammenhänge heute vielfach nicht verstanden werden, dürfte nicht zuletzt an der synonymen Verwendung der Begriffe „Geld“ und „Kapital“ liegen. Durch die Vermehrung von Geld aus dem Nichts wird Kapital nicht ansatzweise vermehrt. Nur durch eine Erhöhung des Kapitalstocks, durch Produktivitätssteigerungen und durch Regeln und Regelsysteme, welche die direkte und indirekte Kooperation von Individuen ermöglichen und nicht behindern, wird Wachstum ermöglicht. Wenn jedoch nach marxistischem Brauch Geld und Kapital in einen Topf geworfen werden, fallen wir hinter das 13. Jahrhundert zurück. Wachstums-, Investitions- und Produktivitätsschwäche sind die Folge. Im 13. Jahrhundert hatte ein Vertreter der radikalen Armutsfraktion der Franziskaner diese Zusammenhänge verstanden.