Ein frischer Blick auf Risiko jenseits von US-Wahlen und Marktvolatilität
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
stellen Sie sich vor, Sie blättern durch die neueste Ausgabe des Economist und stoßen auf die Titelgeschichte: „Der Neid der Welt: Amerikas Wirtschaft ist größer und besser als je zuvor.“ So veröffentlicht am 17. Oktober 2024, versprüht diese Titelseite eine gewisse Euphorie für den US-Markt -ein Warnsignal? Der sogenannte „Front Cover Curse“ gibt eine Antwort. Eine Studie von Citibank-Analysten Gregory Marks und Brent Donnelly untersuchte 44 emotionale Titelgeschichten des Economist seit 1998. Das Ergebnis: In 68 % der Fälle erwiesen sich diese Geschichten innerhalb eines Jahres als konträr. Optimistische Schlagzeilen waren oft Vorboten für eine Abschwächung, während pessimistische Geschichten häufig eine Erholung ankündigten. Es scheint, als ob die Frontseiten großer Magazine eher ein Spiegel der bereits erreichten Extreme sind und weniger ein verlässlicher Indikator für die Zukunft.
Was bedeutet das für uns als Anleger? Sicherheit beim Investieren geht weit über die momentane Stimmung und die reißerischen Schlagzeilen hinaus. Es bedeutet aus unserer Sicht nicht, dass eine Aktie keine Schwankungen aufweist. Vielmehr geht es darum, eine Aktie zu einem Preis zu erwerben, der ihrem inneren Wert entspricht oder diesem nahekommt. Nur wenn sich dieser innere Wert verändert, sollten wir unsere Anlage überdenken, weil sie unsicher werden könnte. „Risiko“ bedeutet in diesem Kontext, dass die investierte Summe im Wert sinken oder gar wertlos werden könnte.Wenn der Börsenkurs einer Aktie sinkt, heißt das lediglich, dass mehr Marktteilnehmer verkaufen als kaufen. Es könnte zum Beispiel sein, dass ein Großinvestor aus persönlichen Gründen seine Anteile veräußert – so hat bspw. die Ex-Frau von Jeff Bezos im Jahr 2023 über 65 Millionen Amazon-Aktien im Gegenwert von rd. 10 Mrd. USD verkauft, was den Kurs mutmaßlich (künstlich) negativ beeinflusste. Der entsprechende Kursverlust war für Aktionäre, die von der langfristigen Wachstumskraft Amazons überzeugt sind kein Risiko. In diesem Jahr erleben wir eine überhitzte Kursrallye – eine Phase, in der Aktienkurse schneller steigen als die zugrunde liegenden Unternehmensgewinne. Das Forward-Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des S&P 500 ist seit Oktober 2022 um 43 % gestiegen, während die erwarteten Gewinne nur um 13,9 % zugenommen haben. Diese Diskrepanz erinnert an die Warnungen vor irrationaler Euphorie, die Alan Greenspan bereits 1996 aussprach. Doch ist diese Entwicklung „riskant“ oder könnte man auf anderer Ebene nach einer rationalen Erklärung fündig werden?
Möglicherweise sind die hohen Bewertungen und die Konzentration auf Technologie-(und Kommunikations-) Unternehmen heute weniger riskant als in vergleichbaren Situationen in der Vergangenheit (z. B. 2000). Die Antwort liegt in der fundamental veränderten Rolle der Technologie. Sie ist nicht mehr nur ein separater Sektor im Aktienmarkt, sondern ein zentraler Treiber für Produktivitätswachstum und Effizienz in der gesamten Wirtschaft. Unternehmen haben heute die Möglichkeit, dank technologiebasierter Lösungen ihre Produktivität zu steigern, die Kosten zu senken und die Gewinnmargen zu erhöhen. Die Sektoren Technologie und Kommunikation kommen aktuell für über ein Drittel der Gewinnerwartungen im S&P 500. Dabei machen sie gut 40 % der Marktkapitalisierung aus, wie wir bereits im Sommer schrieben und Dr. Ed Yardeni in seiner aktuellen Analyse aufzeigt. Das ist ein gesundes Verhältnis, anders als in der Dotcom-Blase mit nur einem Viertel Gewinnanteil als der Anteil am Marktwert ebenfalls auf diesem Niveau lag. Dadurch haben sich Technologieunternehmen von einer riskanten Wette zu einer stabilen Ertragsquelle entwickelt, die auch in Zukunft Wachstumspotenzial bietet.
(Technologie-) Aktien sind aus einem weiteren Grund „anti-riskant“: Historisch gesehen haben Aktienanlagen die Inflation am besten abgefedert, da Unternehmen in der Lage sind, Preiserhöhungen an ihre Kunden weiterzugeben. Sie besitzen eine eingebaute Preissetzungsmacht, die es ihnen erlaubt, auch in Zeiten steigender Inflation profitabel zu bleiben. Im Gegensatz dazu leiden Anleihen, wenn die Zinsen steigen, da ihre festen Erträge durch die Inflation an Wert verlieren - ein Risiko! Immer wieder wird die Sorge laut, dass der Aktienmarkt vor einem verlorenen Jahrzehnt steht – ähnlich wie es in den 2000er Jahren der Fall war. Doch die gegenwärtigen Voraussetzungen lassen eher auf das Gegenteil schließen. Solange die Gewinne und Dividenden weiter in einem soliden Tempo wachsen, unterstützt durch produktivitätssteigernde Technologie, bleibt ein solches Szenario unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Es könnte sogar auf ein Jahrzehnt ähnlich den „Roaring 2020s“ hindeuten, das sich weiter in die „Roaring 2030s“ erstreckt. Die Basis dafür bilden innovative Technologien, die höhere Gewinnmargen, gesteigerte Produktivität und effizientere Geschäftsmodelle ermöglichen.
Sollte ich die US-Wahlen im Depot berücksichtigen oder nicht?
Investieren ist in unseren Augen stets eine Frage des Horizonts, über den man plant, sein Geld anzulegen. Wer kurzfristige Börsenaufschwünge mitnehmen möchte, kann durch Trading von momentanen Trends profitieren, unabhängig davon, ob die Aktie gerade zum inneren Wert gehandelt wird. Hauptsache, das Momentum spricht für sie – und das kann in Stunden, Minuten oder sogar (Nano-)Sekunden der Fall sein. Wer hingegen plant, über mehrere Jahre anzulegen, hat den Luxus, sich nicht um kurzfristige Trends kümmern zu müssen. Ist die Präsidentschaftswahl in den USA im November 2024 entscheidend dafür, ob eine Aktie wie Microsoft sagen wir im Jahr 2045 mehr wert sein wird? Wie relevant sind wöchentliche Arbeitslosenzahlen oder Inflationsraten für ein Investment mit einem Anlagehorizont von mehreren Jahrzehnten? Das sind komplexe Fragen, aber oft haben solche kurzfristigen Ereignisse nur begrenzte Auswirkungen auf langfristige Investments. Ich würde daher sagen, Sie können sich zurücklehnen und das Schauspiel beobachten. Beeinflussen können Sie es ohnehin nicht. Damit ist nicht gesagt, dass der Ausgang der Wahlen die globale Wirtschaft nicht erheblich beeinflussen wird.
Daher ist der beste Rat in meinen Augen: Setzen Sie u. a. bei den US-Wahlen nicht alles auf eine Karte, in der Hoffnung, dass genau ein bestimmtes Szenario eintritt. Das ist ein heikles Spiel, das dem „Loser‘s Game“ im Tennis nahekommt. Sie versuchen, den komplizierten Ball zu spielen, der Ihren Gegner sofort aus dem Spiel nimmt. Dabei werden Sie allerdings so fehleranfällig, dass Sie das Spiel verlieren. Spielen Sie stattdessen ein „Winner‘s Game“ und Sie werden belohnt. Warten Sie geduldig auf den Sieg, indem Sie Ihr Portfolio breit diversifizieren und solide Risikomanagementstrategien anwenden. So sind Sie für jedes Szenario gewappnet und minimieren die Gefahr, durch unvorhergesehene Ereignisse überrascht zu werden. Statt auf die lauten Töne der Medien zu hören, sollten wir den Blick über die Schlagzeilen hinaus richten und uns auf das Wesentliche konzentrieren: den inneren Wert der Unternehmen und Anlagen, in die wir investieren. Denn am Ende werden diejenigen belohnt, die mit Weitblick und einer soliden Strategie agieren. Das gilt auch für die kurz bevorstehenden US-Wahlen. Das Ergebnis kennt derzeit niemand und selbst wenn, wäre noch immer höchst unklar, wie die Märkte darauf reagieren würden.
Herzliche Grüße
Ihr Tobias Gabriel
VORSTAND DER HAC VERMÖGENSMANAGEMENT AG
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