Paris, 7. November 2023 – Die Inflation ist noch immer zu niedrig. Lasst uns die geldpolitischen Anreize verstärken, dem Staat noch mehr Schulden aufbürden und das Haushaltsdefizit vergrößern! Könnte es sein, dass Japans Führung Schwierigkeiten hat, ihren Kurs zu finden, während ein Großteil der Welt bereits dabei ist die Inflation zu bekämpfen?
Keineswegs: Das ist eine durchdachte Strategie der japanischen Behörden. Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass wir es mit einem historischen Moment zu tun haben. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren steht das Land kurz davor, die strukturelle Disinflation zu besiegen, unter der es leidet. Noch gleicht diese Geldpolitik allerdings einem schwach flackernden Feuer. Um zu verhindern, dass es wieder erlischt, gilt es, die Glut anzufachen und sicherzustellen, dass es richtig auflodert. Dies betrifft nicht nur Rohstoffe und Lebensmittel – eine finanzielle Belastung für ein Importland –, sondern auch Dienstleistungen und vor allem die Löhne, sodass letztendlich der Konsum angekurbelt wird.
Geldpolitische Einheit: Gemeinsame Ziele trotz Rekordinflation
In Japan herrscht Einigkeit zwischen Zentralbank, Regierung und Gewerkschaften über die verfolgten Ziele, die als so wesentlich angesehen werden, dass sie jedes erforderliche Mittel zu rechtfertigen scheinen – wobei die Unternehmen vermutlich die Ausnahme bilden.
So hat die Zentralbank auf ihrer Sitzung am 31. Oktober eine Fortführung ihrer extrem akkommodierenden Geldpolitik beschlossen. Sie lässt ihre Leitzinsen im negativen Bereich (-0,1 %) und hält an der Obergrenze für zehnjährige Zinsen von 1 % fest, während die Inflation bei 3 % liegt. Die realen Leitzinsen liegen somit bei -3 % und die realen zehnjährigen Zinsen bei etwa -2 %. Geldpolitische Anreize auf einem solchen Niveau gab es bisher selten. Noch entscheidender ist, dass sich die Inflation, ohne die zwei besonders volatilen Komponenten Energie und frische Lebensmittel, seit dem Sommer oberhalb von 4 % eingependelt hat. Dieses Niveau wurde seit 1981 nicht mehr erreicht. Unter diesem Gesichtspunkt wirkt der geldpolitische Stimulus nur noch stärker.
Die Obergrenze von 1 % für zehnjährige Zinsen wird inzwischen von der Zentralbank als flexible Grenze erachtet und wurde somit etwas gelockert. Folglich werden die Maßnahmen, um die Überschreitung dieser Grenze zu verhindern, weniger systematisch erfolgen. Doch die Zentralbank Japans bleibt eine der wenigen, wenn nicht die einzige, die für diese Laufzeit überhaupt eine Obergrenze setzt. Es ist zu erwarten, dass die Bank das aktuelle Niveau bis zur Veröffentlichung der Inflationsaussichten für 2026 im April 2024 beibehält. Denn wenngleich die aktuellen Inflationsaussichten für das Geschäftsjahr 2025 – ohne Energie und frische Lebensmittel – bereits bei 1,9 % und damit dicht am langfristigen Ziel liegen, reicht dieser Horizont noch nicht aus, um das Ziel als dauerhaft erreicht zu betrachten. Hierzu müsste man mindestens bis 2026 mit diesem Niveau rechnen können. Nur dann könnte die Obergrenze für zehnjährige Zinsen vorsichtig angehoben oder sogar aufgehoben werden. Dies wäre jedoch ein Novum.
Der Markt hat diese akkommodierende Botschaft verstanden und die Landeswährung sofort auf über 151 Yen gegenüber dem Dollar ansteigen lassen. Damit liegt sie auf ihrem schwächsten Niveau seit 1990.
Konjunkturbelebung: Regierung und Gewerkschaften im Schulterschluss
Zu dieser einzigartigen Haltung der Zentralbank gesellt sich die der Regierung. Das Wachstum ist recht kräftig, die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor gering und das Land verzeichnet die weltweit höchste Staatsverschuldung in Relation zum BIP, nämlich 255 %. Sie ist somit vergleichbar mit der des Sudans. Trotz alledem hat der Premierminister jüngst die Verabschiedung eines neuen Konjunkturprogramms mit einem Volumen von über 100 Milliarden Euro (17 000 Milliarden Yen) in die Wege geleitet. Er möchte die Last der Inflation für die Haushalte mindern – einer Inflation, die er gerade anzuheizen versucht.
Doch all diese geld- und haushaltspolitischen Anstrengungen nützen nichts, wenn die Löhne nicht folgen. In dieser Hinsicht sind die Gewerkschaften in Marschbereitschaft. Laut dem Sender NHK plant Rengo, die größte Gewerkschaftsorganisation Japans, beim jährlichen Verhandlungszyklus im kommenden Frühjahr Lohnerhöhungen von über 5 % zu fordern. Doch es gibt keine Garantie, dass dieses Niveau von den Arbeitgebern akzeptiert wird. Der Tankan-Umfrage zufolge gehen die Unternehmen nur von einer moderaten Steigerung der Erzeugerpreise in den kommenden drei Jahren aus (insgesamt 3,8 %). In diesem Fall bliebe wenig Spielraum für Lohnerhöhungen, die nicht stark an den Gewinnen zehren, zumal die Inflation in der übrigen Welt rückläufig ist.
Ein Spiegelbild für Europas Zukunft?
Auch wenn die spezifischen geldpolitischen Sorgen Japans in einem absoluten Missverhältnis zu denen der Mehrheit der wohlhabenden Länder zu stehen scheinen, sind sie für die übrige Welt von großer Tragweite. Denn in vieler Hinsicht spielt Japan eine Vorreiterrolle, insbesondere für Europa. Rückläufiges Bevölkerungswachstum, Alterung, schwaches strukturelles Wachstum, Abhängigkeit von Rohstoffen, zu geringe Inflation, schwindelerregende Verschuldung der öffentlichen Hand, Löhne auf Halbmast, negative Leitzinsen – all das erinnert an Europa.
Sollte Japan mit seinem gewagten Manöver Erfolg haben, wird das eine Stütze sein. Sollte es scheitern, wird es Europa einen Anhaltspunkt dafür liefern, was es zu vermeiden gilt, wenngleich sich die Entwicklungen bereits sehr stark ähneln. Die Schicksale der beiden gegensätzlichen Teile der Welt scheinen miteinander verknüpft zu sein – trotz der Inflationsunterschiede.
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