Mit großem Schwung war die neue britische Regierung unter Liz Truss in ihr Amt gestartet. Dabei sprangen sogleich Mut und Pragmatismus ins Auge, wie er auf dem europäischen Kontinent eher unbekannt ist.
Immerhin wirkt die neue Premierministerin illusionslos hinsichtlich der wirtschaftlichen Malaise auf der britischen Insel. Angesichts des vollzogenen Brexits erscheint es durchaus konsequent, in Großbritannien ein marktwirtschaftliches Gegenmodell zu den immer öfter kollektivistisch agierenden EU-Ländern zu errichten. So mag es erstaunen, dass die britische Regierung neue Ölbohrlizenzen in der Nordsee ausschreibt und gleichzeitig das Fracking gestattet. Offenbar hat man aber in der Downing Street No. 10 erkannt, dass den derzeit hohen Preisen von Erdgas, Kohle und Strom vor allem durch eine Angebotsausweitung beizukommen ist.
Bemerkenswert ist auch die vorgeschlagene Abschaffung von Bonusbegrenzungen für Bankmitarbeiter. Frau Truss versteht augenscheinlich, dass es einen großen Vorteil für ihr Land bedeutet, wenn London, das durch den Brexit wesentlich geringer gelitten hat als befürchtet, seine Rolle als wichtigster Finanzplatz Europas ausbauen kann. Zudem: Je höher die Boni, desto größer die Einkommensteuereinnahmen. Es kann getrost den Unternehmen selber überlassen werden, wie sie ihre Angestellten vergüten. Diesbezügliche Bevormundung, wie sie von der EU bevorzugt wird (Stichwort MiFID), stärkt den Finanzplatz London.
Spektakulär mutete zunächst der Verzicht auf eine geplante Erhöhung der Unternehmenssteuern an. In Westminster reifte offenbar der Eindruck, dass Großbritannien attraktive Standortbedingungen für Unternehmen bieten sollte. Es mag durchaus dieser eher unternehmensfreundlichen Haltung geschuldet sein, dass etwa die Großunternehmen Unilever und Shell ihre Hauptverwaltung vor nicht allzu langer Zeit trotz Brexit in London konzentriert haben.
Übergeordnet verhält sich Großbritanniens Regierung konsequent, wenn sie einen Alternativkurs zur EU steuert. Andernfalls wäre der Austritt aus der Gemeinschaft sinnlos gewesen. Freilich trägt das Ganze auch den Charakter eines Experiments. Fürwahr, Experimente können scheitern, wie die jahrelange Negativzinspolitik der EZB uns unlängst schmerzhaft vor Augen geführt hat. Aber ein Kontrastprogramm zu den zunehmend sozialistisch handelnden EU-Ländern mag helfen, den Bürgern klar zu machen, dass der bürokratische Vollversorgungsstaat deutscher Prägung nicht alternativlos ist.
Derweil mochten die Finanzmärkte die angekündigte Politik nicht goutieren. Angst vor erheblich steigender Staatsverschuldung führte zu panikartigen Verkäufen britischer Staatsanleihen. Seit Jahresbeginn fielen die Kurse zehnjähriger britischer Staatsanleihen um mehr als dreißig Prozent. Auch das britische Pfund kam während des allgemeinen Tumultes gehörig unter die Räder. Die Bank of England sah sich genötigt, ihren Zinsstraffungspfad zu verlassen und Gilts aufzukaufen, zumal Pensionsfonds durch den dramatischen Kursverfall bei Anleihen in Schwierigkeiten gerieten. Mehr noch, erste Immobilienfonds verweigerten die Rückgabe von Anteilen. Zuletzt musste der ambitionierte Schatzkanzler Kwasi Kwarteng auf Geheiß von Frau Truss nach nur 19 Tagen im Amt seinen Hut nehmen. Die stets schneidig auftretende Premierministerin sah sich ihrerseits gezwungen, bei den vorgelegten Steuerplänen demütig zurückzurudern.
Per Saldo ist mithin eine brisante Lage auf der britischen Insel entstanden. Es bleibt offen, ob die Ideen der neuen Regierungschefin in Downing Street No. 10 den Jahrzehnte langen Abstieg des Königreiches beschleunigen oder eine Wende einleiten. In Europas Hauptstädten wird man die Entwicklung mit großem Interesse verfolgen.
Aus Chicago
Ihr
Dr. Christoph Bruns
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