Im Rückblick war das Börsenjahr 2022 bis jetzt nichts für schwache Nerven. Ob sich daran in den nächsten Monaten etwas ändern wird bleibt abtzuwarten. Denn die aktuellen Herausforderungen und Krisen sind und werden enorm bleiben, sowohl in der Real- als auch der Finanzwirtschaft. Der Krieg in der Ukraine, immer weiter steigende Inflationsraten und Unsicherheit über die weitere Energieversorgung in Europa. Die Liste kann noch beliebig erweitert und vertieft werden, je nach Grad der pessimistischen Weltanschauung. Dazu befinden wir uns aktuell wieder in einem Zyklus steigender Zinsen und abnehmender Liquidität. Seit März dieses Jahres hebt die amerikanische Zentralbank (FED) die Zinsen wieder an. Seit den frühen 90er Jahren ist das der vierte Zinszyklus der FED.1
Der erste Zyklus in diesem Zeitabschnitt startet 1994. Diese Zeit bis in die frühen 2000er Jahre wird im Nachhinein als die Ära der „Großen Moderation“2 bezeichnet. Unter Alan Greenspan (1987-2006), sowie dem Vor- und Nachfolger galt diese Zeit als ruhig mit niedrigen Inflationsraten und langfristiger Wirtschaftsexpansion. Dabei bezieht sich diese Bezeichnung nicht nur auf die Politik der Federal Reserve und der US-Wirtschaft, sondern auf den Großteil der Industrienationen.
So war die Zinspolitik der FED von 1994 bis 2000 weitestgehend von steigenden Zentralbankzinsen geprägt bis zum Platzen der Dotcom-Blase Anfang des Jahres 2000. Das Wirtschaftswachstum in dieser Zeit bewegte sich konstant zwischen 5% und 7% bei stabilen Inflationsraten (1,4%-3,8%) und einer stetig fallenden Arbeitslosenquote. Lässt man die zwischenzeitlichen „kleinen“ Zinssenkungen außer Acht, dann dauert die Phase steigender Zinsen 6,5 Jahre. Die darauffolgende Phase sinkender Zinsen, hervorgerufen durch das Platzen der Dotcom-Blase, ist mit 2,5 Jahren deutlich kürzer und endet mit dem erneuten Zinsanstieg in der Jahresmitte 2004.
Eine wieder in Fahrt kommende US-Wirtschaft mit steigenden GDP-Zahlen, sinkender Arbeitslosigkeit und höheren Inflationsraten führten zum Beginn des nächsten Zyklus, welcher seinen Höhepunkt vor der großen Finanzkrise 2007/2008 markierte. Der Zinsanstieg startete im Juni 2004 und dauert zwei Jahre bis Juni 2006. Von da an verweilten die Zinsen auf dem Niveau von 5,25% bis eintretende Finanzkrise die FED dazu veranlasste die Zinsen ab 09/2007 in 1,3 Jahren auf 0,25% abzusenken. Die ab diesem Zeitpunkt schnell fallenden Zinsen auf ein bis dato historisches Tief von 0,25% (Oberes Zielband) blieben in Folge der Finanzkrise und der sich daran anschließenden Rezession inklusive EU-Schuldenkrise sechs Jahre auf diesem Rekordtief.
Der letzte, vollendete Zyklus startete Ende 2015. In 2,9 Jahren hob die FED, vor dem Hintergrund einer starken wirtschaftlichen Entwicklung und einer konstant steigenden Inflationsrate, den Zins von 0,25% auf 2,25% an. Das Einsetzen der Corona-Krise im Frühjahr 2020 beschleunigte den Zinssenkungszyklus, welcher Mitte 2019 begann. Im Zuge der Pandemie senkte die FED in 18 Monaten die Zinsen wieder auf 0,25%.
Immer schneller und kürzer?
Alle drei vorangegangenen Zyklen gleichen sich dabei in zwei Mustern: Einem schrittweise, über Jahre andauernden Zinsanstieg folgte ein deutlicher schnellerer Rückgang. Und die Zyklen wurden allgemein kürzer sowohl auf der Seite der Zinserhöhungen als auch der Zinssenkungen.
Zyklus | Dauer Zinserhöhungen3 | Dauer Zinssenkungen |
1993-2000 | 6,5 | 2,5 |
2004-2006 | 2,0 | 1,3 |
2015-2022 | 2,9 | 1,5 |
2022- | 0,5 |
Der aktuelle Zyklus, welcher seit 03/2022 läuft, fällt vor allem durh das hohe Tempo der monetären Straffung auf. Eine stufenweise Anhebung der Zinsen, wie in den vorangegangenen Zyklen, sucht man hier vergebens.
Der steigende Preisdruck und ein leergefegter US-Arbeitsmarkt lassen mittlerweile auf eine heiß gelaufene Wirtschaft schließen. Diese Umstände haben die amerikanische Zentralbank zu diesen aggressiven Zinsschritten gezwungen. Begonnen hat die Entwicklung nach der „Corona-Öffnung“ im dritten Quartal 2020, als mit der Verfügbarkeit von Impfstoffen die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen aus dem Nichts explodierte. Dazu kamen gigantische Fiskalprogramme der US-Regierung. Insgesamt beliefen sich die pandemiebedingten Mehrausgaben des Staates auf 4,1 Billionen USD. Fehlende Investitionen der letzten Jahre im Grundstoffsektor, Lieferkettenprobleme und temporäre Lockdowns sorgten auf der anderen Seite für einen Angebotsmangel, welcher die Preise sprunghaft anstiegen ließ. Die Situation verschärfte sich mit dem Beginn des Ukrainekrieges da sowohl Russland als auch die Ukraine wichtige Exportnationen für verschiedene Grundstoffe und Nahrungsmittel sind.
Trotz der bis dato starken Zinsanhebung zeichnet sich nur eine leichte Entspannung der Preisentwicklung an. Im Gegenteil haben die neuesten US-Inflationsdaten für weitere Verunsicherung gesorgt. Denn obwohl die Energiepreise auf Monatssicht stark zurückgegangen sind (-5,0% im August nach -4,6% im Juli) und der Ölpreis4 auf dem Niveau von Anfang Januar 2022 liegt, gewinnt der Preisanstieg an Breite. Die Preise für Essen, Wohnen und Dienstleistungen steigen ungebremst an.
Dies dürfte zu weiteren Zinsschritten in den nächsten Monaten führen. Konträr zu dieser Situation sind jedoch die Markterwartungen über die weitere Zinsentwicklung. Denn obwohl der aktuelle Straffungszyklus erst sechs Monate alt ist, rechnen Marktteilnehmer damit, dass der Höhepunkt bereits in der ersten Jahreshälfte 2023 erreicht sein wird und die Zentralbank die Zinsen ab dort relativ schnell wieder senken wird. Die Erwartungen passen an dieser Stelle zur inversen US-Zinsstrukturkurve, welche am langen Ende niedriger ist wie am kurzen.
FED-Chef Powell hat beim letzten Zinsentscheid der Notenbank im September nochmals deutlich klar gemacht, dass die Zentralbank ihren harten Kurs durchziehen will und muss. Doch trotz dieser wiederholt falkenhaften Aussagen und einem 75 Bp-Zinsschritt bleibt die Form der Zentralbankzinskurve ähnlich. Es wird zwar für das kommende Jahr ein allgemein höherer Zinssatz angenommen und das erwartete Spitzen-Zinsniveau hat sich bis auf über 4,5% erhöht. Dennoch erwarten die Marktteilnehmer erste kleine Zinssenkungen ab der Jahresmitte 2023. Eine Spannende Situation, denn sollten sich diese Erwartungen erfüllen, müsste die Inflation bis dahin deutlich zurückgehen und vermutlich auch der US-Arbeitsmarkt ein Stück weit abkühlt sein.
Die Form der Zinskurve und die Markterwartungen von Zinssenkungen bei gleichzeitig historisch hoher Inflation und einem angespannten Arbeitsmarkt lassen auf das Risiko einer bevorstehenden Stagflation mit niedrigen oder teils negativen Wachstumsraten bei einem gleichzeitig erhöhten Preisniveau schließen. Aus heutiger Sicht könnte der aktuelle Zinszyklus deutlich kürzer werden als die letzten Zyklen der vergangenen 20 Jahre. Die Umstände sind zwar nicht miteinander vergleichbar, aber ein halbes Jahr nach Beginn der letzten Zinsanhebungen, im September 2016 wurden für die kommenden zwei Jahre weiter steigende Zinsen erwartet. Für die kommenden Notenbanksitzungen wird viel Fingerspitzengefühl von Nöten sein, um die extreme Inflation einzufangen und gleichzeitig der Wirtschaft so wenig Schaden wie möglich zuzufügen.
Wie behaupten sich Aktien in diesem Umfeld?
Die Auswertung historischer Daten zeichnet dabei ein überraschend freundliches Bild für die Entwicklung amerikanischer Aktienmärkte in den Phasen geldpolitischer Straffung5. Betrachtet man die Performance des S&P 500 Index während der Zinserhöhungsphasen seit 1954, steht nur in den Jahren 1972-1974 eine negative Performance zu Buche. Über alle Zinserhöhungszyklen hinweg lag die durchschnittliche Performance bei 9,4% p.a.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studie der Deutschen Bank, bei der die Performance des S&P 500, während 13 Zinserhöhungszyklen seit 1955 ausgewertet wurden. Demnach konnte der Index in dem Jahr, in dem die FED begann, die Zinsen anzuheben um durchschnittlich 7,7% zulegen. Historisch betrachtet fällt die Belastung der Aktienmärkte durch steigende Zinsen eher kurzfristig ins Gewicht. Eine von Evercore ISI durchgeführte Analyse6 ergab, dass der S&P 500 unmittelbar nach Beginn eines Zinserhöhungszyklus im ersten Monat um durchschnittlich 4% fiel. Jedoch lag der Index sechs Monate nach der ersten Zinsanhebung um 3% höher und ein Jahr später bei durchschnittlich +5%.
Genauso interessant und für manch einen überraschend ist eine historische Auswertung, ebenfalls von Evercore ISI, zur Sektor-Performance von Aktien in Phasen, in denen die FED die Zinsen angehoben hat.
Im ersten Monat nach Beginn des Zyklus ist die Performance von fast allen Branchen negativ. Financials, welche nach Lehrbuch durch die Fristentransformation mit am meisten von steigenden Zinsen profitieren müssten, verloren jedoch mit durchschnittlich -6% mehr als (fast) alle anderen Sektoren. Nach 12 Monaten gehörten Technologie- und Real Estate Aktien zu den Branchen mit der höchsten Performance, auch wenn dies, ebenfalls nach Lehrbuch, vor dem Hintergrund steigender Diskontierungssätze und unattraktiverer Finanzierungsmöglichkeiten genau andersherum sein müsste. Auf der anderen Seite schneiden Finanztitel in dieser Auswertung auch nach 12 Monaten unterdurchschnittlich ab, genauso wie Materials/Grundstoffe.
Eigene Auswertungen7 des S&P 500 und der Subindizes Technologie sowie Financials unterstützen diese Aussage, auch wenn die eigens errechneten Performancezahlen nicht deckungsgleich mit denen von Evercore ISI sind, in den folgenden Aussagen:
- Die Performance im ersten Monat der Zinserhöhung ist im Durschnitt bei allen Indizes negativ
- Die Performance wird positiver, je länger die erste Zinserhöhung zurückliegt
- Technologiewerte reagierten kurzfristig negativ auf die erste Zinserhöhung, holten dies jedoch im Laufe des ersten Jahres steigender Zinsen wieder auf
- Financials weisen keine deutliche Outperformance gegenüber dem Gesamtmarkt auf
Bei der Interpretation der historischen Auswertungen sollte jedoch unbedingt beachtet werden, dass die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zyklen nicht miteinander vergleichbar sind und demnach eine Analyse historischer Daten keine zwangsläufigen Rückschlüsse auf die Entwicklung während des aktuellen Zinszyklus zulässt. Beispielsweise betrug die annualisierte Rendite des S&P Technology im ersten Zyklus 42,8%, was auf die DotCom-Blase mitsamt ihren irrationalen und übertriebenen Bewertungsniveaus zurückzuführen ist.
Fazit: Heute so wie früher?
Auf dieser Grundlage steht die Aussage, dass Technologietitel und Wachstumstitel im Allgemeinen in einem Zinserhöhungszyklus eine zwangsläufig schwächere Performance aufweisen als der Gesamtmarkt auf wackeligen Füßen. Genauso dass zinssensible Finanzwerte zwangsläufig stärker performen als der Gesamtmarkt. Vielmehr scheint der Markt, nach einer ersten Verunsicherung, langfristig ein höheres Wachstum zu honorieren und anstatt Angst vor höheren Diskontierungssätzen zu haben. Schwer zu glauben für den Technologieinvestor im Jahre 2022, welcher sich aktuell mit einem Minus von knapp 12% im S&P 500 Technology seit der ersten Zinsanhebung konfrontiert sieht.
Außerdem könnte es passieren, dass der aktuelle Zyklus früher seinen Höhepunkt findet, wie viele vor dem Hintergrund der hohen Inflationsrate vermuten. Schenkt man den Einschätzungen der Marktteilnehmer zum heutigen Stand glauben, dann erreicht der US-Leitzins im Mai 2023 seinen Höhepunkt und geht ab dann zurück, wenn auch langsam. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Lage dürfte das zumindest nicht als ausgeschlossen beiseitegeschoben werden. Erste Vorindikatoren der US-Inflationszahlen kündigen eine Entspannung an. Tritt dieser Fall ein, würde das außerdem die Vermutung bestätigen, dass Zinszyklen seit knapp 30 Jahren kürzer werden.
Abschließend ein kurzer Blick nach Europa: Hier werden im kommenden Jahr noch weiter Zinsanstiege erwartet. Allerdings zeigen die Frühindikatoren der Preisentwicklung hierzulande ein anderes Bild als in den USA. In Amerika sind die Produzentenpreise im August zurückgegangen, während die Preisdynamik in Deutschland (Zahlen für Europa werden Anfang Oktober veröffentlicht) mit +45,8% YoY weiter nach oben schießen. Ob die Europäische Zentralbank jedoch vor dem Hintergrund hochverschuldeter Staaten genauso resolut reagieren kann wie die FED, darf bezweifelt werden. Im Bezug auf die Auswirkung auf Aktienbranchen ist das Bild in Europa mit dem in USA vergleichbar. So schnitten die Sektoren des Stoxx 600 Index ähnlich in Zinserhöhungszyklen ab, wie ihre amerikanischen Pendants.
Rechtliche Hinweise
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Fußnoten
1 Unter der Annahme, dass die amerikanische Zentralbank unabhängiger agieren kann als ihr europäisches Pendant, wird im folgenden Text nur auf diese und den US-Aktienmarkt eingegangen.
2 Great Moderation von 1980-2007, hier wird nur der Ausschnitt dargestellt, der sich mit dem Zinszyklus von 1993-2000 überschneidet.
3 Beide Angaben in Jahren
4 WTI in USD, Stand: 16.09.2022
5 Studie von Truist Advisory Services
6 Bezogen auf vier Zinserhöhungszyklen seit 1994
7 Betrachtet wurden die Zinsanstiege der letzten drei vollendeten Zinszyklen seit Anfang 1994. 01.02.1994-30.06.2000; 30.06.2004 – 30.06.2004 und 31.12.2015-31.07.2019