Die Märkte haben nervös auf den Sieg Lulas bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen reagiert und damit die große Bedeutung der Politik für Aktien, Anleihen und den brasilianischen Real unterstrichen. Was Anleger in Brasilien beachten müssen, warum das Makrobild nicht immer die ganze Geschichte erzählt und welche Brasilien Aktien wir derzeit im Blick haben.
Die Wahlen: Erste Ergebnisse
Die Wahl des linksorientierten Präsidentschaftskandidaten Lula da Silva in der Stichwahl am vergangenen Wochenende war nichts für schwache Nerven. Nicht nur war der Abstand zum Amtsinhaber Jair Bolsonaro hauchdünn – 50,9 zu 49,1 Prozent: der Rechtspopulist und bekennende Trump-Fan ließ zunächst offen, ob er den Sieg Lulas überhaupt anerkennen würde. Erst zwei Tage nach der Wahl gab Bolsonaro bekannt, dass er sich verfassungskonform verhalten werde. Die gute Nachricht: damit negierte er nicht die Gültigkeit der Wahl, und angesichts der vorherigen Schlammschlacht im Wahlkampf gab es keine nennenswerten Unruhen, sieht man von der Blockade einiger Straßen durch Pro-Bolsonaro-Trucker ab. Die schlechte Nachricht: Bolsonaro hat bisher seine Niederlage nicht eingestanden. Es bleibt also ein Rest an Unsicherheit, ob der Amtswechsel von Bolsonaro zu Lula am 1. Januar 2023 so reibungslos vollzogen wird wie erhofft, oder ob randalierende Bolsonaro-Anhänger es ähnlich der Trump-Fans am 6. Januar 2021 versuchen werden, die Bestallung Lulas zum brasilianischen Präsidenten im letzten Moment zu verhindern.
Die Märkte reagierten zunächst entsprechend verunsichert. Am Tag nach der Wahl brach der Aktienmarkt zum Handelsstart zunächst um zwei Prozent ein, beendete jedoch den Handel mit einem ordentlichen Plus. Die Währung des Landes reagierte nach demselben Muster, schwach gegenüber dem Dollar zum Start, fester im weiteren Verlauf der Woche. Das dürfte die Erleichterung widerspiegeln, dass es nicht zu Unruhen gekommen war. Doch angesichts der Erwartungen der Anleger, dass Lula eine staatsdirigistische Politik mit starken sozialen Elementen verfolgen dürfte, gab es an der Börse hohe Verluste bei staatseigenen Betrieben. Petrobras etwa brach nach der Wahl um rund zehn Prozent ein, und auch die teilweise staatliche Banco do Brasil verlor gegen den Trend bei Financials deutlich. Die Befürchtung steht hier im Raum, dass Lula die staatlichen Firmen nutzen wird, um Sozialprogramme aufzulegen. Entsprechend haben zyklische Sektoren von der Erwartung vieler Anleger in dieser Woche bisher davon profitiert, dass Lula die Konjunktur bzw. den Privatverbrauch stützen dürfte.
Die Gegenüberstellung von Bolsonaro als unternehmerfreundlich und dem Sozialisten und Wohltäter Lula ist nicht falsch, hinkt jedoch: In seiner ersten Amtszeit zwischen 2003 und 2010 hatte Lula tatsächlich durch umfangreiche Sozialprogramme Millionen von Brasilianern aus der Armut verholfen. Vor der Wahl versprach Lula entsprechend, die staatlichen Ausgaben für Wohlfahrt und Infrastruktur zu erhöhen. Der Rechtspopulist und ehemalige Militärs Bolsonaro wiederum verfolgte in den vergangenen Jahren einen wirtschaftsliberalen Kurs, indem er staatliche Betriebe privatisierte, eine Rentenreform verabschiedete und die staatliche Bürokratie reformierte. Aber ganz so klar ist das Bild nicht. Lula dürfte – auch wegen der starken Stellung der konservativen Partei im Parlament – nicht die Fehler seiner Nachfolgerin im Amt Dilma Rousseff wiederholen, die hohe Budgetdefizite in Zeiten fallender Rohstoffpreise und sinkender Staatseinnahmen auftürmte. Zudem sind die staatlichen Ressourcen derzeit für soziale Programme mager – auch wegen der umfangreichen staatlichen Covid-Hilfen seit 2020 und der Wahlgeschenke Bolsonaros, der die staatlichen Beihilfen für die Ärmsten der Armen von umgerechnet 78 auf 117 Euro monatlich erhöhte. Das engt den Spielraum Lulas für teure Sozialprogramme ein.
Brasilien Aktien: Eine volatile Historie
Anleger in Brasilien Aktien aus dem Euroraum blicken auf ein verlorenes Jahrzehnt zurück. Die Finanzkrise, fallende Rohstoffpreise, eine niedrige Produktivität bei schwachen Wachstumsraten sowie hartnäckig hohe Inflationsraten haben die Aktienkurse unter Druck gesetzt. Besonders stark machte sich aber der schwache Real bemerkbar. Die untere Tabelle zeigt, dass per Ende Oktober der MSCI Brazil aus Sicht von Euro-Anlegern nur ein mageres Plus von zwei Prozent pro Jahr erzielte, während der MSCI-Index auf Real-Basis um jährlich gut neun Prozent zulegte. Der durchschnittliche Fonds für Brasilien Aktien verlor sogar pro Jahr 0,2 Prozent. Zum Vergleich: Der MSCI World legte zwischen 2012 und 2022 um jährlich knapp zwölf Prozent zu, und auch der notorisch schwache MSCI Emerging Markets lag mit 3,5 Prozent jährlich gut im Plus.
Die Folge der Performance-Misere, die sich erst in diesem Jahr gedreht hat: die Bedeutung brasilianischer Aktien hat in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Hatte das Gewicht von Brasilien Aktien im MSCI Emerging Markets im Jahr 2010 noch bei gut 15 Prozent gelegen, sank sie wegen der nachfolgenden Underperformance auf nur noch vier Prozent Ende 2021 (was natürlich auch am gestiegenen Gewicht von China Aktien lag). Erst in den vergangenen Monaten konnten Brasilien Aktien Dank der Outperformance in diesem Jahr etwas Boden gut machen. Ende Oktober lag ihr Anteil bei 6,5 Prozent des Schwellenländer Aktienbarometers.
Das Risiko war für Euro-Anleger in den vergangenen Jahren besonders hoch. Die Volatilität des MSCI Brazil (EUR) und des durchschnittlichen Brasilienfonds lagen bei rund 30 Prozent pro Jahr seit 2012. Indes war die Schwankungsbreite des MSCI Brazil aus Sicht der Anleger in Brasilien mit 22 Prozent deutlich niedriger. Auch der maximale Verlust in der Spalte rechts außen zeigt, dass der Real Euro-Anlegern einen gehörigen Strich durch die Rechnung machte. Der ungünstigste Zeitpunkt zwischen Ein- und Ausstieg brachte ein Verlust von rund 55 Prozent zwischen 2012 und heute. Anleger in Brasilien verloren mit dem MSCI Brazil indes maximal 36 Prozent. Die Vergleichsdaten für den MSCI World und MSCI Emerging Markets zeigen ebenfalls, dass das Risiko in Brasilien Aktien auch im Vergleich zu anderen Schwellenländern in den vergangenen zehn Jahren hoch war.
Bewertungen, Reformen, Grenzen des Wachstums: Glanz und Elend von Brasilien Aktien
Hinter der hohen Volatilität des brasilianischen Aktienmarkts steht in erster Linie ein für Emerging Markets typisches Problem: Die hohe Abhängigkeit von ausländischen Kapitalflüssen zur Finanzierung des Wachstums. Es sind vor allem Länder betroffen, die ihre Wirtschafts- und Finanzsysteme liberalisiert haben und so für ausländische Investoren besonders attraktiv sind. Länder wie Brasilien ziehen mit hohen Wachstumsraten und üppigen Zinsen Investoren aus den Industrieländern an. Vor allem in Zeiten tiefer Zinsen. Damit setzen sich diese Länder jedoch den Launen der Finanzmärkte bzw. externen Schocks aus.
Das Jahr 2013 steht beispielhaft für die Fragilität vieler Entwicklungsländer. Im sogenannten “Taper Tantrum” stiegen die Renditen an den US-Anleihenmärkten sprunghaft an. Das bewirkte hohe Abflüsse aus Hochzinswährungen, die daraufhin gegenüber dem US-Dollar an Wert verloren. Die Folge waren steigende Leistungsbilanzdefizite und steigende Inflationsraten, die dann die Notenbanken zu Zinserhöhungen zwangen, was wiederum die Konjunktur in vielen Ländern abwürgte. Zehn Jahre, nachdem ein Goldman Sachs Ökonom das positiv konnotierte Akronym “BRIC” prägte, erfand ein nicht weniger findiger Morgan Stanley Investmentbanker folgerichtig zehn Jahre später die Gruppe der “Fragile Five”, die zum Start Brasilien, Indonesien, Südafrika, Indien und die Türkei umfasste. Basierend auf diesen Kriterien wurden in den Folgejahren wiederholt neue „Fragility-Champions“ ausgerufen. 2017 wurden im Fragile Five Reload neben Südafrika, die Türkei und Indonesien Mexiko und Kolumbien zusammengebracht. Bei diesen Windhundrennen, die Medien gerne immer wieder aufgreifen, wird oft unterschlagen, dass viele Entwicklungsländer seit 2013 ihre Devisenreserven erhöht und sich gegen Kapitalfluchtbewegungen besser gewappnet haben.
So griffig derartige Bezeichnungen sein mögen, als (implizite) Handlungsanweisung sind sie für Anleger eher schädlich als nützlich. Die faktische Verkaufsempfehlung für diese fünf Märkte im Jahr 2013 löste eine weitere Verkaufswelle von Brasilien und Emerging Markets Aktien, Anleihen (und damit Währungen) aus. Die Abflüsse gingen heftig bis Ende 2016 weiter. Doch was passierte ab 2016? Als die Stimmung für Brasilien am schlechtesten war, hob der Aktienmarkt zu einer gigantischen Erholungsrally an. Wie bereits in einem der oberen Charts illustriert, legten Brasilien Aktien 2016 aus Sicht von Euro-Anlegern um sensationelle 72 Prozent zu. Wer also im Zuge der Fragile-Five-Angst verkauft hatte, war zur Unzeit ausgestiegen.
Anleger sollten also die Schwachpunkte von Emerging Markets also natürlich beachten, aber nicht als Handlungsanweisung verstehen. Denn fallende Kurse sind oftmals stimmungsgetrieben und fallen daher übertrieben hoch aus. Und in Zeiten fallender Kurse wird oft zu wenig zwischen den einzelnen Unternehmensstories diskriminiert – im Zweifel wird das verkauft, was sich schnell zu Geld machen lässt. Die lange Durststrecke für Brasilien Aktien hat entsprechende Folgen für die Bewertungen. Auch heute, nach dem hervorragenden Lauf in 2022 sind Brasilien Aktien im Schnitt spottbillig. Einem (TTM) KGV von 16,5 im MSCI World und 9,6 im MSCI Emerging Markets steht ein KGV von 5,5 beim MSCI Brazil gegenüber.
Auf diesem Niveau erscheint das Fragilitätsrisiko in einem anderen Licht. Apropos Fragilitätsrisiko: Die Risiken sind für Brasilien durchaus real: Das BIP-Wachstum von ordentlichen 2,8 Prozent in diesem Jahr dürfte nach Einschätzung der Weltbank 2023 auf magere 0,3 Prozent fallen. Nicht hilfreich ist dabei das niedrige Produktivitätswachstum, ein komplexes Steuersystem und die Aussicht auf steigende staatliche Interventionen in der Wirtschaft unter Lula. Diesen Risiken stehen jedoch steigende Rohstoffpreise, eine noch erträgliche Verschuldung (80 Prozent des BIP) und eine relativ niedrige Inflation von nur 7,7 Prozent gegenüber. Apropos Inflation: Nach zwölf Zinsschritten in Folge ab März 2021 liegt der Leitzins in Brasilien bei 13,75 Prozent. Was der Konjunktur geschadet hat, war rückblickend betrachtet vorausschauend: Selbst nach der sechsten aufeinanderfolgenden Zinserhöhung in den USA am 2. November auf 3,75 bis 4,0 Prozent (die vierte Erhöhung um 75 Basispunkten in Folge!) bleibt Brasilien der Vorreiter in “Hikelandia” (Economist). Das verschafft der Banco Central do Brasil den nötigen Spielraum, um 2023 einer schwächelnden Konjunktur wichtige Impulse zu geben – ohne, dass dies zu einer Rückabwicklung von Carry Trades führen muss, die nach wie vor eine Lebenslinie für die brasilianische Wirtschaft sind.
Ausblick: Die bevorstehenden Zahlen von Nu Holdings, Pagseguro und XP
Im Emerging Markets Digital Leaders befinden sich drei Aktien aus Brasilien. Sie reagierten in den ersten Handelstagen nach der Wahl Lulas positiv auf die Neuigkeiten. Die Nu Holdings Aktie, Muttergesellschaft der Nubank, der größten Digitalbank der Welt, stieg um 7 Prozent, der günstig bewertete Payment Provider Pagseguro konnte um 8 Prozent zulegen und die Aktien des dynamischen Wachsenden Asset Managers XP sprangen sogar um 11 Prozent an.
Die drei Digitalunternehmen profitieren vom Wahlsieg Lulas, denn sinkende Zinsen sind gut für Fintechs. In den nächsten Tagen wird Steffen Gruschka, Berater des EMDL, seine Einschätzungen zu den Quartalszahlen geben und auch auf die Highlights der Geschäftsentwicklung bei Nu Holdings, Pagseguro und XP eingehen.
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